len. Jch habe nichts, keinen Stand, kein Ver- mögen, kein Amt, wenig äusserlich empfehlendes; warum sollte sie mich andern vorziehen? oder mich nicht alsobald vergessen, wenn ein, dem äusserlichen Scheine nach, besserer und vorzüglicherer Mann kommt, u. s. w.
So quälte er sich oft ganze Stunden lang, und thürmte Berge von Zweifeln gegen seine eigne Ruhe auf. Aber wenn er Marianen wieder sah, und sie ihm mit dem Blick der Liebe begegnete, dann verschwanden diese Zweifel wieder, wie Ne- belwolken vor der Sonne. -- Etliche Tage nach dem Konzert schickte sie an Kronhelm den Geßner wieder, und ließ ihn, oder Siegwart um ein an- deres Buch bitten. Sigwart schickte ihr den Kleist, und sprang mit dem Geßner auf sein Zimmer, wo er ihn hundertmal an den Mund drückte und küßte. Das Buch war ihm nun ganz heilig ge- worden. Er blätterte es durch, und verweilte sich bey jedem Blatt. Jegliches schien ihm zu glänzen, weil ihr Auge drauf geruht hatte. Wie groß war seine Freude, als er ein klein Stückchen blauer Seide drinn liegen fand, von der Farbe, wie sie zuweilen ein Kleid trug. Dieses Stückchen war ihm mehr werth, als dem Abergläubigen das
len. Jch habe nichts, keinen Stand, kein Ver- moͤgen, kein Amt, wenig aͤuſſerlich empfehlendes; warum ſollte ſie mich andern vorziehen? oder mich nicht alſobald vergeſſen, wenn ein, dem aͤuſſerlichen Scheine nach, beſſerer und vorzuͤglicherer Mann kommt, u. ſ. w.
So quaͤlte er ſich oft ganze Stunden lang, und thuͤrmte Berge von Zweifeln gegen ſeine eigne Ruhe auf. Aber wenn er Marianen wieder ſah, und ſie ihm mit dem Blick der Liebe begegnete, dann verſchwanden dieſe Zweifel wieder, wie Ne- belwolken vor der Sonne. — Etliche Tage nach dem Konzert ſchickte ſie an Kronhelm den Geßner wieder, und ließ ihn, oder Siegwart um ein an- deres Buch bitten. Sigwart ſchickte ihr den Kleiſt, und ſprang mit dem Geßner auf ſein Zimmer, wo er ihn hundertmal an den Mund druͤckte und kuͤßte. Das Buch war ihm nun ganz heilig ge- worden. Er blaͤtterte es durch, und verweilte ſich bey jedem Blatt. Jegliches ſchien ihm zu glaͤnzen, weil ihr Auge drauf geruht hatte. Wie groß war ſeine Freude, als er ein klein Stuͤckchen blauer Seide drinn liegen fand, von der Farbe, wie ſie zuweilen ein Kleid trug. Dieſes Stuͤckchen war ihm mehr werth, als dem Aberglaͤubigen das
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len. Jch habe nichts, keinen Stand, kein Ver-
moͤgen, kein Amt, wenig aͤuſſerlich empfehlendes;
warum ſollte ſie mich andern vorziehen? oder mich
nicht alſobald vergeſſen, wenn ein, dem aͤuſſerlichen
Scheine nach, beſſerer und vorzuͤglicherer Mann
kommt, u. ſ. w.
So quaͤlte er ſich oft ganze Stunden lang, und
thuͤrmte Berge von Zweifeln gegen ſeine eigne
Ruhe auf. Aber wenn er Marianen wieder ſah,
und ſie ihm mit dem Blick der Liebe begegnete,
dann verſchwanden dieſe Zweifel wieder, wie Ne-
belwolken vor der Sonne. — Etliche Tage nach
dem Konzert ſchickte ſie an Kronhelm den Geßner
wieder, und ließ ihn, oder Siegwart um ein an-
deres Buch bitten. Sigwart ſchickte ihr den Kleiſt,
und ſprang mit dem Geßner auf ſein Zimmer, wo
er ihn hundertmal an den Mund druͤckte und
kuͤßte. Das Buch war ihm nun ganz heilig ge-
worden. Er blaͤtterte es durch, und verweilte
ſich bey jedem Blatt. Jegliches ſchien ihm zu
glaͤnzen, weil ihr Auge drauf geruht hatte. Wie
groß war ſeine Freude, als er ein klein Stuͤckchen
blauer Seide drinn liegen fand, von der Farbe,
wie ſie zuweilen ein Kleid trug. Dieſes Stuͤckchen
war ihm mehr werth, als dem Aberglaͤubigen das
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 684. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/264>, abgerufen am 22.11.2024.
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