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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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treu bleibe, sie möge schreiben oder nicht. Es
könne nur einen neuen Lärm bey seinem Vater ab-
geben, wenn er den Briefwechsel wieder anfange,
u. s. w.

Nun kamen sie auf die Würkungen der Liebe in
dem Herzen eines Verliebten zu sprechen. Sieg-
wart sagte: Jch bin, seit ich liebe, ein ganz an-
drer Mensch. Jch glaubte vorher, gut zu seyn,
aber die Liebe hat mich noch weit besser gemacht.
Jch bin frömmer, andächtiger, mitleidiger, und
duldsamer geworden. Jch bin auf fremdes Elend
aufmerksamer, und fühl es tiefer. Wenn ich ein
blasses Gesicht, und ein trübes Auge sehe, so ver-
muth ich fogleich unglückliche oder hoffnungslose
Liebe, und nehme an dem Schicksal dieser Person
Antheil. Jch würde alles thun, um ihr eine Ge-
fälligkeit zu erweisen, die ihr Elend lindern, oder
heben könnte. Jeder Liebender, und Leidender
wird auch mein Bruder. Jch theilte gern mit
jedem Armen mein Vermögen. Die Glückseligkeit
aller Menschen liegt mir nah am Herzen. Jch
wäre fähig, alles für andre zu thun. Jede Pflicht,
und jede Tugend wird mir leichter. *) So glaub ich

*) Wenn ich bete, so wird mein Herz weiter,
wie gewöhnlich. Es hebt sich leichter, und



treu bleibe, ſie moͤge ſchreiben oder nicht. Es
koͤnne nur einen neuen Laͤrm bey ſeinem Vater ab-
geben, wenn er den Briefwechſel wieder anfange,
u. ſ. w.

Nun kamen ſie auf die Wuͤrkungen der Liebe in
dem Herzen eines Verliebten zu ſprechen. Sieg-
wart ſagte: Jch bin, ſeit ich liebe, ein ganz an-
drer Menſch. Jch glaubte vorher, gut zu ſeyn,
aber die Liebe hat mich noch weit beſſer gemacht.
Jch bin froͤmmer, andaͤchtiger, mitleidiger, und
duldſamer geworden. Jch bin auf fremdes Elend
aufmerkſamer, und fuͤhl es tiefer. Wenn ich ein
blaſſes Geſicht, und ein truͤbes Auge ſehe, ſo ver-
muth ich fogleich ungluͤckliche oder hoffnungsloſe
Liebe, und nehme an dem Schickſal dieſer Perſon
Antheil. Jch wuͤrde alles thun, um ihr eine Ge-
faͤlligkeit zu erweiſen, die ihr Elend lindern, oder
heben koͤnnte. Jeder Liebender, und Leidender
wird auch mein Bruder. Jch theilte gern mit
jedem Armen mein Vermoͤgen. Die Gluͤckſeligkeit
aller Menſchen liegt mir nah am Herzen. Jch
waͤre faͤhig, alles fuͤr andre zu thun. Jede Pflicht,
und jede Tugend wird mir leichter. *) So glaub ich

*) Wenn ich bete, ſo wird mein Herz weiter,
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[680/0260] treu bleibe, ſie moͤge ſchreiben oder nicht. Es koͤnne nur einen neuen Laͤrm bey ſeinem Vater ab- geben, wenn er den Briefwechſel wieder anfange, u. ſ. w. Nun kamen ſie auf die Wuͤrkungen der Liebe in dem Herzen eines Verliebten zu ſprechen. Sieg- wart ſagte: Jch bin, ſeit ich liebe, ein ganz an- drer Menſch. Jch glaubte vorher, gut zu ſeyn, aber die Liebe hat mich noch weit beſſer gemacht. Jch bin froͤmmer, andaͤchtiger, mitleidiger, und duldſamer geworden. Jch bin auf fremdes Elend aufmerkſamer, und fuͤhl es tiefer. Wenn ich ein blaſſes Geſicht, und ein truͤbes Auge ſehe, ſo ver- muth ich fogleich ungluͤckliche oder hoffnungsloſe Liebe, und nehme an dem Schickſal dieſer Perſon Antheil. Jch wuͤrde alles thun, um ihr eine Ge- faͤlligkeit zu erweiſen, die ihr Elend lindern, oder heben koͤnnte. Jeder Liebender, und Leidender wird auch mein Bruder. Jch theilte gern mit jedem Armen mein Vermoͤgen. Die Gluͤckſeligkeit aller Menſchen liegt mir nah am Herzen. Jch waͤre faͤhig, alles fuͤr andre zu thun. Jede Pflicht, und jede Tugend wird mir leichter. *) So glaub ich *) Wenn ich bete, ſo wird mein Herz weiter, wie gewoͤhnlich. Es hebt ſich leichter, und

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 680. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/260>, abgerufen am 24.11.2024.