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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Siegwart saß noch eine Stunde da, und über-
ließ sich seiner Phantasie, als endlich Boling auf-
wachte, um ihn abzulösen. Gutfried schlief sehr
ängstlich, und unruhig; fuhr oft auf, und sprach
oft mit sich selbst. Sie befürchteten den Ausbruch
eines hitzigen Fiebers, das der Arzt den Abend
vorher ziemlich deutlich vorausgesagt hatte. Bo-
ling versprach, unsern Siegwart sogleich zu wecken,
wenn die Krankheit steigen sollte, und nun schlief
er im Lehnstuhl ein. Vor Tag weckte ihn Boling
durch einen heftigen Schrey auf; denn Gutfried
hatte angefangen, zu phantasiren, war aus dem
Bett gesprungen, und hielt ihn an der Kehle fest.
Laß mich los! rief Gutfried, reiß mich nicht von
Marianen, Vater! sonst erwürg ich dich! Sieg-
wart sprang hinzu, und riß ihn endlich mit aller
Gewalt von Boling weg. Sie hatten Mühe, ihn ins
Bett zu bringen; seine Augen funkelten und roll-
ten fürchterlich; der weisse Schaum stand ihm zwi-
schen den Zähnen; er klammerte sich mit den Hän-
den fest an, wenn er was zu fassen kriegte, und
hatte fast übermenschliche Stärke. Endlich brach-
ten sie ihn doch wieder aufs Lager. Er sprach un-
aufhörlich fort, zankte sich mit seinem Vater, glaub-
te zuweilen, den bösen Feind vor sich zu sehen,



Siegwart ſaß noch eine Stunde da, und uͤber-
ließ ſich ſeiner Phantaſie, als endlich Boling auf-
wachte, um ihn abzuloͤſen. Gutfried ſchlief ſehr
aͤngſtlich, und unruhig; fuhr oft auf, und ſprach
oft mit ſich ſelbſt. Sie befuͤrchteten den Ausbruch
eines hitzigen Fiebers, das der Arzt den Abend
vorher ziemlich deutlich vorausgeſagt hatte. Bo-
ling verſprach, unſern Siegwart ſogleich zu wecken,
wenn die Krankheit ſteigen ſollte, und nun ſchlief
er im Lehnſtuhl ein. Vor Tag weckte ihn Boling
durch einen heftigen Schrey auf; denn Gutfried
hatte angefangen, zu phantaſiren, war aus dem
Bett geſprungen, und hielt ihn an der Kehle feſt.
Laß mich los! rief Gutfried, reiß mich nicht von
Marianen, Vater! ſonſt erwuͤrg ich dich! Sieg-
wart ſprang hinzu, und riß ihn endlich mit aller
Gewalt von Boling weg. Sie hatten Muͤhe, ihn ins
Bett zu bringen; ſeine Augen funkelten und roll-
ten fuͤrchterlich; der weiſſe Schaum ſtand ihm zwi-
ſchen den Zaͤhnen; er klammerte ſich mit den Haͤn-
den feſt an, wenn er was zu faſſen kriegte, und
hatte faſt uͤbermenſchliche Staͤrke. Endlich brach-
ten ſie ihn doch wieder aufs Lager. Er ſprach un-
aufhoͤrlich fort, zankte ſich mit ſeinem Vater, glaub-
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[642/0222] Siegwart ſaß noch eine Stunde da, und uͤber- ließ ſich ſeiner Phantaſie, als endlich Boling auf- wachte, um ihn abzuloͤſen. Gutfried ſchlief ſehr aͤngſtlich, und unruhig; fuhr oft auf, und ſprach oft mit ſich ſelbſt. Sie befuͤrchteten den Ausbruch eines hitzigen Fiebers, das der Arzt den Abend vorher ziemlich deutlich vorausgeſagt hatte. Bo- ling verſprach, unſern Siegwart ſogleich zu wecken, wenn die Krankheit ſteigen ſollte, und nun ſchlief er im Lehnſtuhl ein. Vor Tag weckte ihn Boling durch einen heftigen Schrey auf; denn Gutfried hatte angefangen, zu phantaſiren, war aus dem Bett geſprungen, und hielt ihn an der Kehle feſt. Laß mich los! rief Gutfried, reiß mich nicht von Marianen, Vater! ſonſt erwuͤrg ich dich! Sieg- wart ſprang hinzu, und riß ihn endlich mit aller Gewalt von Boling weg. Sie hatten Muͤhe, ihn ins Bett zu bringen; ſeine Augen funkelten und roll- ten fuͤrchterlich; der weiſſe Schaum ſtand ihm zwi- ſchen den Zaͤhnen; er klammerte ſich mit den Haͤn- den feſt an, wenn er was zu faſſen kriegte, und hatte faſt uͤbermenſchliche Staͤrke. Endlich brach- ten ſie ihn doch wieder aufs Lager. Er ſprach un- aufhoͤrlich fort, zankte ſich mit ſeinem Vater, glaub- te zuweilen, den boͤſen Feind vor ſich zu ſehen,

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 642. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/222>, abgerufen am 21.11.2024.