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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Privatkonzert hatten. Siegwart zog sich an,
und gieng mit ihm. Als sie schon unter der
Hausthüre waren, sagte Kronhelm: Nimmst
du denn deine Violine nicht mit? Ach, das
ist wahr! die hätt ich bald vergessen! ant-
wortete Siegwart, und sprang die Treppe wie-
der hinauf. Als das Band, an dem die Violine
hieng, sich am Nagel verwickelt hatte, riß er es
mit Gewalt entzwey. Jm Konzert spielte er ohne
alle Aufmerksamkeit mit, und hörte endlich, als
ein andrer kam, der die erste Violine spielte, gar
auf, weil er vorgab, es sey ihm nicht recht wohl.
Er setzte sich in eine Ecke, hielt die Hand vors
Gesicht, versank in Wehmuth, und dachte nichts,
als das schöne andächtige Mädchen. Zuweilen
konnte er sich ihr Gesicht nicht mehr deutlich vor-
stellen; es schwebte blos sein Umriß vor ihm her-
um, und da ward er auf sich selbst böse, und gab
sich alle Mühe, sich das ganze Bild wieder zurück
zu rufen. Kronhelm merkte wohl, als er mit ihm
nach Haus gieng, daß ihm etwas sehlte, aber er
beruhigte sich wieder, als er hörte, daß es nur von
Kopfschmerzen herrühre. Siegwart blieb wohl noch
drey Stunden auf, sprach oft mit sich selbst, sang
zuweilen etwas, betete, und flehte Gott um Ruhe



Privatkonzert hatten. Siegwart zog ſich an,
und gieng mit ihm. Als ſie ſchon unter der
Hausthuͤre waren, ſagte Kronhelm: Nimmſt
du denn deine Violine nicht mit? Ach, das
iſt wahr! die haͤtt ich bald vergeſſen! ant-
wortete Siegwart, und ſprang die Treppe wie-
der hinauf. Als das Band, an dem die Violine
hieng, ſich am Nagel verwickelt hatte, riß er es
mit Gewalt entzwey. Jm Konzert ſpielte er ohne
alle Aufmerkſamkeit mit, und hoͤrte endlich, als
ein andrer kam, der die erſte Violine ſpielte, gar
auf, weil er vorgab, es ſey ihm nicht recht wohl.
Er ſetzte ſich in eine Ecke, hielt die Hand vors
Geſicht, verſank in Wehmuth, und dachte nichts,
als das ſchoͤne andaͤchtige Maͤdchen. Zuweilen
konnte er ſich ihr Geſicht nicht mehr deutlich vor-
ſtellen; es ſchwebte blos ſein Umriß vor ihm her-
um, und da ward er auf ſich ſelbſt boͤſe, und gab
ſich alle Muͤhe, ſich das ganze Bild wieder zuruͤck
zu rufen. Kronhelm merkte wohl, als er mit ihm
nach Haus gieng, daß ihm etwas ſehlte, aber er
beruhigte ſich wieder, als er hoͤrte, daß es nur von
Kopfſchmerzen herruͤhre. Siegwart blieb wohl noch
drey Stunden auf, ſprach oft mit ſich ſelbſt, ſang
zuweilen etwas, betete, und flehte Gott um Ruhe

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[566/0146] Privatkonzert hatten. Siegwart zog ſich an, und gieng mit ihm. Als ſie ſchon unter der Hausthuͤre waren, ſagte Kronhelm: Nimmſt du denn deine Violine nicht mit? Ach, das iſt wahr! die haͤtt ich bald vergeſſen! ant- wortete Siegwart, und ſprang die Treppe wie- der hinauf. Als das Band, an dem die Violine hieng, ſich am Nagel verwickelt hatte, riß er es mit Gewalt entzwey. Jm Konzert ſpielte er ohne alle Aufmerkſamkeit mit, und hoͤrte endlich, als ein andrer kam, der die erſte Violine ſpielte, gar auf, weil er vorgab, es ſey ihm nicht recht wohl. Er ſetzte ſich in eine Ecke, hielt die Hand vors Geſicht, verſank in Wehmuth, und dachte nichts, als das ſchoͤne andaͤchtige Maͤdchen. Zuweilen konnte er ſich ihr Geſicht nicht mehr deutlich vor- ſtellen; es ſchwebte blos ſein Umriß vor ihm her- um, und da ward er auf ſich ſelbſt boͤſe, und gab ſich alle Muͤhe, ſich das ganze Bild wieder zuruͤck zu rufen. Kronhelm merkte wohl, als er mit ihm nach Haus gieng, daß ihm etwas ſehlte, aber er beruhigte ſich wieder, als er hoͤrte, daß es nur von Kopfſchmerzen herruͤhre. Siegwart blieb wohl noch drey Stunden auf, ſprach oft mit ſich ſelbſt, ſang zuweilen etwas, betete, und flehte Gott um Ruhe

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/146>, abgerufen am 24.11.2024.