blicken. Er wollte wieder beten, aber er konnte nicht vier Worte zusammen bringen. Drauf mach- te er ein Kreuz, schlug sich auf die Brust, stund auf, und, indem er sich umwendete, sah er das schlanke Geschöpf mit langsamem, majestätischem Gang der Kirchenthüre zugehn, sich mit Wieh- wasser besprengen, und aus seinen Augen verschwin- den. Er kam aus der Kirche, ohne selbst zu wissen, wie? Gutfried stand in einem Seiten- stuhle, und grüste ihn; aber er nahm ihn nicht wahr. Als er vor die Kirche kam, sah er das Mädchen nicht mehr, und wuste nicht, wo er sich hin wenden sollte? -- Gott! Was ist das? dachte er. War das ein Engel, oder wars Maria? Seine ganze Empfindung war ihm unerklärlich. Es war ihm nicht wohl, und auch nicht weh! Seine See- le war immer ausser ihm, und er wuste doch nicht, wo? Er sah nur das, gen Himmel gehobene Au- ge, und die schlanke Gestalt, wie sie majestätisch vor ihm hin schwebte. Ein paar Stunden lang gieng er, ohne sich seiner bewust zu seyn, auf sei- nem Zimmer auf und ab. Er wollte beten, wollte lesen; aber seine Gedanken waren immer anders- wo. Zuweilen seufzte er, und hustete, um vor sich selbst den Seufzer zu verbergen. Kronhelm hatte
blicken. Er wollte wieder beten, aber er konnte nicht vier Worte zuſammen bringen. Drauf mach- te er ein Kreuz, ſchlug ſich auf die Bruſt, ſtund auf, und, indem er ſich umwendete, ſah er das ſchlanke Geſchoͤpf mit langſamem, majeſtaͤtiſchem Gang der Kirchenthuͤre zugehn, ſich mit Wieh- waſſer beſprengen, und aus ſeinen Augen verſchwin- den. Er kam aus der Kirche, ohne ſelbſt zu wiſſen, wie? Gutfried ſtand in einem Seiten- ſtuhle, und gruͤſte ihn; aber er nahm ihn nicht wahr. Als er vor die Kirche kam, ſah er das Maͤdchen nicht mehr, und wuſte nicht, wo er ſich hin wenden ſollte? — Gott! Was iſt das? dachte er. War das ein Engel, oder wars Maria? Seine ganze Empfindung war ihm unerklaͤrlich. Es war ihm nicht wohl, und auch nicht weh! Seine See- le war immer auſſer ihm, und er wuſte doch nicht, wo? Er ſah nur das, gen Himmel gehobene Au- ge, und die ſchlanke Geſtalt, wie ſie majeſtaͤtiſch vor ihm hin ſchwebte. Ein paar Stunden lang gieng er, ohne ſich ſeiner bewuſt zu ſeyn, auf ſei- nem Zimmer auf und ab. Er wollte beten, wollte leſen; aber ſeine Gedanken waren immer anders- wo. Zuweilen ſeufzte er, und huſtete, um vor ſich ſelbſt den Seufzer zu verbergen. Kronhelm hatte
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blicken. Er wollte wieder beten, aber er konnte
nicht vier Worte zuſammen bringen. Drauf mach-
te er ein Kreuz, ſchlug ſich auf die Bruſt, ſtund
auf, und, indem er ſich umwendete, ſah er das
ſchlanke Geſchoͤpf mit langſamem, majeſtaͤtiſchem
Gang der Kirchenthuͤre zugehn, ſich mit Wieh-
waſſer beſprengen, und aus ſeinen Augen verſchwin-
den. Er kam aus der Kirche, ohne ſelbſt zu
wiſſen, wie? Gutfried ſtand in einem Seiten-
ſtuhle, und gruͤſte ihn; aber er nahm ihn nicht wahr.
Als er vor die Kirche kam, ſah er das Maͤdchen
nicht mehr, und wuſte nicht, wo er ſich hin
wenden ſollte? — Gott! Was iſt das? dachte er.
War das ein Engel, oder wars Maria? Seine
ganze Empfindung war ihm unerklaͤrlich. Es war
ihm nicht wohl, und auch nicht weh! Seine See-
le war immer auſſer ihm, und er wuſte doch nicht,
wo? Er ſah nur das, gen Himmel gehobene Au-
ge, und die ſchlanke Geſtalt, wie ſie majeſtaͤtiſch
vor ihm hin ſchwebte. Ein paar Stunden lang
gieng er, ohne ſich ſeiner bewuſt zu ſeyn, auf ſei-
nem Zimmer auf und ab. Er wollte beten, wollte
leſen; aber ſeine Gedanken waren immer anders-
wo. Zuweilen ſeufzte er, und huſtete, um vor ſich
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 564. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/144>, abgerufen am 17.07.2024.
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