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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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ihm da standen. Nach dem Abendessen gieng man
wieder in den Garten. Heute hatte sich eine Nach-
tigall ganz nahe zu der Grotte gemacht, und sang
da ihr göttliches Lied. Siegwarts Seele war ganz
voll. Er drückte einigemal dem P. Anton mit ei-
ner innigen Bewegung die Hand.

Er besuchte noch mit ihm und Pater Gregor
einen kranken Pater, der mehr vor Alter als vor
Krankheit langsam dahin zu sterben schien, und der
Rose glich, die an einem stillen Abend, wenn kein
Lüftchen sich bewegt, die Blätter nach und nach ver-
liert. Der Kranke athmete still, und sprach we-
nig. Neben ihm lag sein Gebetbuch, und der Ro-
senkranz. Dazwischen stand ein Krucifix. Einige Blu-
men welkten in einem irdenen Gefäß. Ein paar
Arzneygläser standen dabey. Jn der Ecke der Zelle
hing eine düstre Lampe, die ihr Licht nur schwach
umher verbreitete. Anton und der andre Pater,
die dem Kranken wachen solten, sprachen leise. Je-
de lautere Bewegung ward vermieden, und tiefe
feyerliche Stille herrschte rings umher, wie es bey
dem Sterbebette der Mutter Siegwarts gewesen
war. Jhr Andenken wachte auch hell in seiner
Seele auf, und sie erschien ihm noch einmal im
Traum; lebhafter als die Nacht zuvor.



ihm da ſtanden. Nach dem Abendeſſen gieng man
wieder in den Garten. Heute hatte ſich eine Nach-
tigall ganz nahe zu der Grotte gemacht, und ſang
da ihr goͤttliches Lied. Siegwarts Seele war ganz
voll. Er druͤckte einigemal dem P. Anton mit ei-
ner innigen Bewegung die Hand.

Er beſuchte noch mit ihm und Pater Gregor
einen kranken Pater, der mehr vor Alter als vor
Krankheit langſam dahin zu ſterben ſchien, und der
Roſe glich, die an einem ſtillen Abend, wenn kein
Luͤftchen ſich bewegt, die Blaͤtter nach und nach ver-
liert. Der Kranke athmete ſtill, und ſprach we-
nig. Neben ihm lag ſein Gebetbuch, und der Ro-
ſenkranz. Dazwiſchen ſtand ein Krucifix. Einige Blu-
men welkten in einem irdenen Gefaͤß. Ein paar
Arzneyglaͤſer ſtanden dabey. Jn der Ecke der Zelle
hing eine duͤſtre Lampe, die ihr Licht nur ſchwach
umher verbreitete. Anton und der andre Pater,
die dem Kranken wachen ſolten, ſprachen leiſe. Je-
de lautere Bewegung ward vermieden, und tiefe
feyerliche Stille herrſchte rings umher, wie es bey
dem Sterbebette der Mutter Siegwarts geweſen
war. Jhr Andenken wachte auch hell in ſeiner
Seele auf, und ſie erſchien ihm noch einmal im
Traum; lebhafter als die Nacht zuvor.

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[44/0048] ihm da ſtanden. Nach dem Abendeſſen gieng man wieder in den Garten. Heute hatte ſich eine Nach- tigall ganz nahe zu der Grotte gemacht, und ſang da ihr goͤttliches Lied. Siegwarts Seele war ganz voll. Er druͤckte einigemal dem P. Anton mit ei- ner innigen Bewegung die Hand. Er beſuchte noch mit ihm und Pater Gregor einen kranken Pater, der mehr vor Alter als vor Krankheit langſam dahin zu ſterben ſchien, und der Roſe glich, die an einem ſtillen Abend, wenn kein Luͤftchen ſich bewegt, die Blaͤtter nach und nach ver- liert. Der Kranke athmete ſtill, und ſprach we- nig. Neben ihm lag ſein Gebetbuch, und der Ro- ſenkranz. Dazwiſchen ſtand ein Krucifix. Einige Blu- men welkten in einem irdenen Gefaͤß. Ein paar Arzneyglaͤſer ſtanden dabey. Jn der Ecke der Zelle hing eine duͤſtre Lampe, die ihr Licht nur ſchwach umher verbreitete. Anton und der andre Pater, die dem Kranken wachen ſolten, ſprachen leiſe. Je- de lautere Bewegung ward vermieden, und tiefe feyerliche Stille herrſchte rings umher, wie es bey dem Sterbebette der Mutter Siegwarts geweſen war. Jhr Andenken wachte auch hell in ſeiner Seele auf, und ſie erſchien ihm noch einmal im Traum; lebhafter als die Nacht zuvor.

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/48>, abgerufen am 29.03.2024.