Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.
aber nachher vergeß ich sie wieder, und fühle keine weitre Sehnsucht nach ihr. Kurz, eine dunkle Empfindung sagt mir, daß sie das Mädchen noch nicht sey, das für mich allein geschaffen ist, und der- einst mein ganzes Daseyn ausfüllen und beleben soll. -- Und dann, muß ich dir gestehen, so viel mir an dem Fräulein gefällt, so viel mißfällt mir auch an ihr. Was sie heut vom Landleben sagte, scheint mir mehr Deklamation zu seyn, als inniges, empfundenes Gefühl. Man spricht von dem nur wenig, was man hat und fühlt! -- Und beson- ders hat mir ihr Betragen gegen mich sehr mißfal- len. Sie kann überhaupt noch keine wahre Liebe zu mir fühlen, da sie mich noch viel zu wenig kennt. Wahre Liebe gründet sich auf Hochachtung, und muß der höchste Grad von Freundschaft seyn. Beydes ist nicht möglich, wenn man nicht die Vor- züge des andern genau kennt; und diese lernt man erst durch einen längern und vertrautern Umgang kennen. Jch weiß wol, daß die Liebe sich mehren- theils beym Aeusserlichen, bey der Gesichtsbildung, und dergleichen anfängt; aber von dieser Liebe halt ich auch so viel nicht. Und nun bedenk, wie hat das Fräulein ihre Liebe gegen mich geäussert? Gab sie sich nicht völlig blos? Wars nicht eben soviel, aber nachher vergeß ich ſie wieder, und fuͤhle keine weitre Sehnſucht nach ihr. Kurz, eine dunkle Empfindung ſagt mir, daß ſie das Maͤdchen noch nicht ſey, das fuͤr mich allein geſchaffen iſt, und der- einſt mein ganzes Daſeyn ausfuͤllen und beleben ſoll. — Und dann, muß ich dir geſtehen, ſo viel mir an dem Fraͤulein gefaͤllt, ſo viel mißfaͤllt mir auch an ihr. Was ſie heut vom Landleben ſagte, ſcheint mir mehr Deklamation zu ſeyn, als inniges, empfundenes Gefuͤhl. Man ſpricht von dem nur wenig, was man hat und fuͤhlt! — Und beſon- ders hat mir ihr Betragen gegen mich ſehr mißfal- len. Sie kann uͤberhaupt noch keine wahre Liebe zu mir fuͤhlen, da ſie mich noch viel zu wenig kennt. Wahre Liebe gruͤndet ſich auf Hochachtung, und muß der hoͤchſte Grad von Freundſchaft ſeyn. Beydes iſt nicht moͤglich, wenn man nicht die Vor- zuͤge des andern genau kennt; und dieſe lernt man erſt durch einen laͤngern und vertrautern Umgang kennen. Jch weiß wol, daß die Liebe ſich mehren- theils beym Aeuſſerlichen, bey der Geſichtsbildung, und dergleichen anfaͤngt; aber von dieſer Liebe halt ich auch ſo viel nicht. Und nun bedenk, wie hat das Fraͤulein ihre Liebe gegen mich geaͤuſſert? Gab ſie ſich nicht voͤllig blos? Wars nicht eben ſoviel, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0296" n="292"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> aber nachher vergeß ich ſie wieder, und fuͤhle keine<lb/> weitre Sehnſucht nach ihr. Kurz, eine dunkle<lb/> Empfindung ſagt mir, daß ſie das Maͤdchen noch<lb/> nicht ſey, das fuͤr mich allein geſchaffen iſt, und der-<lb/> einſt mein ganzes Daſeyn ausfuͤllen und beleben<lb/> ſoll. — Und dann, muß ich dir geſtehen, ſo viel<lb/> mir an dem Fraͤulein gefaͤllt, ſo viel mißfaͤllt mir<lb/> auch an ihr. Was ſie heut vom Landleben ſagte,<lb/> ſcheint mir mehr Deklamation zu ſeyn, als inniges,<lb/> empfundenes Gefuͤhl. Man ſpricht von dem nur<lb/> wenig, was man hat und fuͤhlt! — Und beſon-<lb/> ders hat mir ihr Betragen gegen mich ſehr mißfal-<lb/> len. Sie kann uͤberhaupt noch keine wahre Liebe<lb/> zu mir fuͤhlen, da ſie mich noch viel zu wenig kennt.<lb/> Wahre Liebe gruͤndet ſich auf Hochachtung, und<lb/> muß der hoͤchſte Grad von <hi rendition="#fr">Freundſchaft</hi> ſeyn.<lb/> Beydes iſt nicht moͤglich, wenn man nicht die Vor-<lb/> zuͤge des andern genau kennt; und dieſe lernt man<lb/> erſt durch einen laͤngern und vertrautern Umgang<lb/> kennen. Jch weiß wol, daß die Liebe ſich mehren-<lb/> theils beym Aeuſſerlichen, bey der Geſichtsbildung,<lb/> und dergleichen anfaͤngt; aber von dieſer Liebe halt<lb/> ich auch ſo viel nicht. Und nun bedenk, wie hat<lb/> das Fraͤulein ihre Liebe gegen mich geaͤuſſert? Gab<lb/> ſie ſich nicht voͤllig blos? Wars nicht eben ſoviel,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [292/0296]
aber nachher vergeß ich ſie wieder, und fuͤhle keine
weitre Sehnſucht nach ihr. Kurz, eine dunkle
Empfindung ſagt mir, daß ſie das Maͤdchen noch
nicht ſey, das fuͤr mich allein geſchaffen iſt, und der-
einſt mein ganzes Daſeyn ausfuͤllen und beleben
ſoll. — Und dann, muß ich dir geſtehen, ſo viel
mir an dem Fraͤulein gefaͤllt, ſo viel mißfaͤllt mir
auch an ihr. Was ſie heut vom Landleben ſagte,
ſcheint mir mehr Deklamation zu ſeyn, als inniges,
empfundenes Gefuͤhl. Man ſpricht von dem nur
wenig, was man hat und fuͤhlt! — Und beſon-
ders hat mir ihr Betragen gegen mich ſehr mißfal-
len. Sie kann uͤberhaupt noch keine wahre Liebe
zu mir fuͤhlen, da ſie mich noch viel zu wenig kennt.
Wahre Liebe gruͤndet ſich auf Hochachtung, und
muß der hoͤchſte Grad von Freundſchaft ſeyn.
Beydes iſt nicht moͤglich, wenn man nicht die Vor-
zuͤge des andern genau kennt; und dieſe lernt man
erſt durch einen laͤngern und vertrautern Umgang
kennen. Jch weiß wol, daß die Liebe ſich mehren-
theils beym Aeuſſerlichen, bey der Geſichtsbildung,
und dergleichen anfaͤngt; aber von dieſer Liebe halt
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| Zitationshilfe: | Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/296>, abgerufen am 25.11.2024. |
