Siegwart warf sich, als sein Freund wegge- gangen war, auf sein Knie, und dankte Gott für dieses himmlische Geschenk. Den andern Tag kam auch P. Philipp zu ihm auf sein Zimmer; sein Herz ward aufs neue zerrissen, aber durch den Bal- sam der Freundschaft ward es wieder geheilt. Nun war er unaufhörlich bey den beyden Edeln, nährte seine Seele mit der Weisheit des Paters, und der himmlischen Gesinnung seines jüngern Freundes. Sie genossen alle Freuden der Natur und des Lebens miteinander, und fühlten alle Wonne dop- pelt. Siegwart bekam immer mehr einen festen und männlichen Karakter; bereicherte seine Kentniß durch die Hülfe des Paters, dessen Umgang so lehr- reich war, weil er aus der Geschichte der Mensch- heit wahre Lebensregeln abgezogen hatte, die er stets am rechten Ort anzuwenden wuste. Dabey lieh er auch Xavern viele gute Bücher, die er ihn auf die rechte Art lesen lehrte. Kronhelm war im Umgang, besonders mit mehrern, mehr still, als gesprächig; aber, was er sprach, war empfunden und gedacht. Sein Gefühl fürs Schöne und Gute war das tiefste und feinste. Er blieb sich, in allen Lagen immer gleich; und wen er einmal liebte,
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Siegwart warf ſich, als ſein Freund wegge- gangen war, auf ſein Knie, und dankte Gott fuͤr dieſes himmliſche Geſchenk. Den andern Tag kam auch P. Philipp zu ihm auf ſein Zimmer; ſein Herz ward aufs neue zerriſſen, aber durch den Bal- ſam der Freundſchaft ward es wieder geheilt. Nun war er unaufhoͤrlich bey den beyden Edeln, naͤhrte ſeine Seele mit der Weisheit des Paters, und der himmliſchen Geſinnung ſeines juͤngern Freundes. Sie genoſſen alle Freuden der Natur und des Lebens miteinander, und fuͤhlten alle Wonne dop- pelt. Siegwart bekam immer mehr einen feſten und maͤnnlichen Karakter; bereicherte ſeine Kentniß durch die Huͤlfe des Paters, deſſen Umgang ſo lehr- reich war, weil er aus der Geſchichte der Menſch- heit wahre Lebensregeln abgezogen hatte, die er ſtets am rechten Ort anzuwenden wuſte. Dabey lieh er auch Xavern viele gute Buͤcher, die er ihn auf die rechte Art leſen lehrte. Kronhelm war im Umgang, beſonders mit mehrern, mehr ſtill, als geſpraͤchig; aber, was er ſprach, war empfunden und gedacht. Sein Gefuͤhl fuͤrs Schoͤne und Gute war das tiefſte und feinſte. Er blieb ſich, in allen Lagen immer gleich; und wen er einmal liebte,
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Siegwart warf ſich, als ſein Freund wegge-
gangen war, auf ſein Knie, und dankte Gott fuͤr
dieſes himmliſche Geſchenk. Den andern Tag kam
auch P. Philipp zu ihm auf ſein Zimmer; ſein
Herz ward aufs neue zerriſſen, aber durch den Bal-
ſam der Freundſchaft ward es wieder geheilt. Nun
war er unaufhoͤrlich bey den beyden Edeln, naͤhrte
ſeine Seele mit der Weisheit des Paters, und der
himmliſchen Geſinnung ſeines juͤngern Freundes.
Sie genoſſen alle Freuden der Natur und des
Lebens miteinander, und fuͤhlten alle Wonne dop-
pelt. Siegwart bekam immer mehr einen feſten
und maͤnnlichen Karakter; bereicherte ſeine Kentniß
durch die Huͤlfe des Paters, deſſen Umgang ſo lehr-
reich war, weil er aus der Geſchichte der Menſch-
heit wahre Lebensregeln abgezogen hatte, die er
ſtets am rechten Ort anzuwenden wuſte. Dabey
lieh er auch Xavern viele gute Buͤcher, die er ihn
auf die rechte Art leſen lehrte. Kronhelm war
im Umgang, beſonders mit mehrern, mehr ſtill, als
geſpraͤchig; aber, was er ſprach, war empfunden
und gedacht. Sein Gefuͤhl fuͤrs Schoͤne und
Gute war das tiefſte und feinſte. Er blieb ſich, in
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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/213>, abgerufen am 24.11.2024.
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