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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776.

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Umständen noch mehr emporgeflammt seyn, und
die Herzen seiner Mitbürger noch mehr erwärmt
haben würde.

Oft schlich er sich im Frühling, mitten im
Spiel, von seinen Kameraden weg, sammelte
Blumen, und band sie in einen Strauß zusam-
men; beobachtete alle Auftritte und Veränderun-
gen der Natur; gab auf jedes Würmchen acht;
sah der Biene zu, wie sie in die Blumenkelche
schlupfte, und Honig oder Wachs an ihren Bein-
chen heraustrug; er horchte jedem Vogel, am mei-
sten aber der Lerche, der Grasemücke und der Nach-
ligall: die letzte gefiel ihm am besten, ob er wol ihren
Namen noch nicht gehört hatte. Oft lag er an der
Quelle, die durch Tropfstein und Moos, und nieder-
hängendes Gras am Berg herabmurmelte; da fühl-
te er ein ungewohntes Sehnen und eine nie em-
pfundne Wehmuth in der Seele; mit glänzendem
Auge gieng er weg, drückte jedem Baurenjungen,
der ihm begegnete, die Hand stärker, und gab ihm
von seinem Abendbrod. Oft gieng er an das
Grab seiner Mutter, wo er Rosen und Jesmin
und Todtennelken gepflanzt hatte, und weinte da.
Kein Geräusch weckte ihn so leicht aus dem Schlaf;
aber wenn vor Sonnen Aufgang an seinem Kam-



Umſtaͤnden noch mehr emporgeflammt ſeyn, und
die Herzen ſeiner Mitbuͤrger noch mehr erwaͤrmt
haben wuͤrde.

Oft ſchlich er ſich im Fruͤhling, mitten im
Spiel, von ſeinen Kameraden weg, ſammelte
Blumen, und band ſie in einen Strauß zuſam-
men; beobachtete alle Auftritte und Veraͤnderun-
gen der Natur; gab auf jedes Wuͤrmchen acht;
ſah der Biene zu, wie ſie in die Blumenkelche
ſchlupfte, und Honig oder Wachs an ihren Bein-
chen heraustrug; er horchte jedem Vogel, am mei-
ſten aber der Lerche, der Graſemuͤcke und der Nach-
ligall: die letzte gefiel ihm am beſten, ob er wol ihren
Namen noch nicht gehoͤrt hatte. Oft lag er an der
Quelle, die durch Tropfſtein und Moos, und nieder-
haͤngendes Gras am Berg herabmurmelte; da fuͤhl-
te er ein ungewohntes Sehnen und eine nie em-
pfundne Wehmuth in der Seele; mit glaͤnzendem
Auge gieng er weg, druͤckte jedem Baurenjungen,
der ihm begegnete, die Hand ſtaͤrker, und gab ihm
von ſeinem Abendbrod. Oft gieng er an das
Grab ſeiner Mutter, wo er Roſen und Jeſmin
und Todtennelken gepflanzt hatte, und weinte da.
Kein Geraͤuſch weckte ihn ſo leicht aus dem Schlaf;
aber wenn vor Sonnen Aufgang an ſeinem Kam-

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[10/0014] Umſtaͤnden noch mehr emporgeflammt ſeyn, und die Herzen ſeiner Mitbuͤrger noch mehr erwaͤrmt haben wuͤrde. Oft ſchlich er ſich im Fruͤhling, mitten im Spiel, von ſeinen Kameraden weg, ſammelte Blumen, und band ſie in einen Strauß zuſam- men; beobachtete alle Auftritte und Veraͤnderun- gen der Natur; gab auf jedes Wuͤrmchen acht; ſah der Biene zu, wie ſie in die Blumenkelche ſchlupfte, und Honig oder Wachs an ihren Bein- chen heraustrug; er horchte jedem Vogel, am mei- ſten aber der Lerche, der Graſemuͤcke und der Nach- ligall: die letzte gefiel ihm am beſten, ob er wol ihren Namen noch nicht gehoͤrt hatte. Oft lag er an der Quelle, die durch Tropfſtein und Moos, und nieder- haͤngendes Gras am Berg herabmurmelte; da fuͤhl- te er ein ungewohntes Sehnen und eine nie em- pfundne Wehmuth in der Seele; mit glaͤnzendem Auge gieng er weg, druͤckte jedem Baurenjungen, der ihm begegnete, die Hand ſtaͤrker, und gab ihm von ſeinem Abendbrod. Oft gieng er an das Grab ſeiner Mutter, wo er Roſen und Jeſmin und Todtennelken gepflanzt hatte, und weinte da. Kein Geraͤuſch weckte ihn ſo leicht aus dem Schlaf; aber wenn vor Sonnen Aufgang an ſeinem Kam-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 1. Leipzig, 1776, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart01_1776/14>, abgerufen am 20.04.2024.