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Mill, John Stuart: Ueber Frauenemancipation. In: John Stuart Mill´s Gesammelte Werke. Leipzig, 1880. S. 1–29.

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Ueber Frauenemancipation.
Die modernen, für aufgeklärt und fortschrittlich geltenden Methoden
der Frauenerziehung verwerfen, soweit es sich um Worte handelt,
eine blos auf den Prunk berechnete Erziehung und geben vor, eine
ernste Ausbildung anzustreben, aber sie verstehen darunter einen
oberflächlichen Unterricht in ernsten Gegenständen. Von Fertig-
keiten abgesehen, in Betreff deren man jetzt allgemein annimmt,
sie sollen gut, wenn überhaupt gelehrt werden, wird nichts den
Frauen gründlich gelehrt. Kleine Bruchtheile von dem, was man
die Knaben gründlich zu lehren versucht, sind alles, was man den
Frauen beizubringen wünscht oder beabsichtigt. Was die Menschen
zu intelligenten Wesen macht, ist das Vermögen zu denken; die
Anregungen, welche dieses Vermögen erwecken, sind der Reiz und
die Würde des Denkens selbst und ein freies Feld für dessen
praktische Anwendung. Diese beiden Beweggründe sind aber Jenen
entzogen, welchen von Jugend auf gesagt wird, daß das Denken
und alle seine wichtigeren Anwendungen die Sache anderer Leute ist,
während es ihre Sache ist, sich anderen Leuten angenehm zu machen.
Hohe Geisteskräfte werden unter den Frauen so lange zufällige
Ausnahmen bleiben, bis ihnen jeder Lebensweg offen steht, und bis
sie so gut wie die Männer für sich selbst und für die Welt er-
zogen werden, nicht das eine Geschlecht für das andere.

Bei dem, was wir bisher über die vereinte Wirkung der unter-
geordneten Stellung der Frauen und der gegenwärtigen Gestaltung
des ehelichen Lebens gesagt haben, hatten wir nur die allergünstigsten
Fälle im Auge, solche, in denen sich irgendwie eine wirkliche An-
näherung an jene Vereinigung und Verschmelzung von Leben und
Charakter vorfindet, welche der theoretischen Erörterung als der
ideale Maßstab dieses Verhältnisses gilt. Aber wenn wir uns
an die große Mehrzahl der Fälle halten, muß der Einfluß der
gesetzlichen Unterordnung der Frauen auf ihren Charakter wie auf
jenen der Männer in weit dunkleren Farben geschildert werden. Wir
sprechen hier nicht von roheren Mißhandlungen und nicht von dem
Recht des Mannes, den Erwerb der Frau mit Beschlag zu
belegen, oder sie gegen ihren Willen zu zwingen, mit ihm zu leben.
Wir wenden uns nicht an Jene, die einen Beweis dafür verlangen,
daß diese Dinge nicht bestehen sollten. Wir nehmen Durchschnitts-
fälle an, in denen weder völlige Harmonie noch völlige Unverein-
barkeit der Gefühle und Charaktere besteht, und wir behaupten,
daß in solchen Fällen die Abhängigkeit des Weibes auf den
Charakter beider schädigend einwirkt. Man glaubt allgemein,
daß, wie es auch immer mit dem geistigen Einfluß der Frauen
stehen mag, ihr moralischer Einfluß auf die Männer nahezu

Ueber Frauenemancipation.
Die modernen, für aufgeklärt und fortschrittlich geltenden Methoden
der Frauenerziehung verwerfen, soweit es sich um Worte handelt,
eine blos auf den Prunk berechnete Erziehung und geben vor, eine
ernste Ausbildung anzustreben, aber sie verstehen darunter einen
oberflächlichen Unterricht in ernsten Gegenständen. Von Fertig-
keiten abgesehen, in Betreff deren man jetzt allgemein annimmt,
sie sollen gut, wenn überhaupt gelehrt werden, wird nichts den
Frauen gründlich gelehrt. Kleine Bruchtheile von dem, was man
die Knaben gründlich zu lehren versucht, sind alles, was man den
Frauen beizubringen wünscht oder beabsichtigt. Was die Menschen
zu intelligenten Wesen macht, ist das Vermögen zu denken; die
Anregungen, welche dieses Vermögen erwecken, sind der Reiz und
die Würde des Denkens selbst und ein freies Feld für dessen
praktische Anwendung. Diese beiden Beweggründe sind aber Jenen
entzogen, welchen von Jugend auf gesagt wird, daß das Denken
und alle seine wichtigeren Anwendungen die Sache anderer Leute ist,
während es ihre Sache ist, sich anderen Leuten angenehm zu machen.
Hohe Geisteskräfte werden unter den Frauen so lange zufällige
Ausnahmen bleiben, bis ihnen jeder Lebensweg offen steht, und bis
sie so gut wie die Männer für sich selbst und für die Welt er-
zogen werden, nicht das eine Geschlecht für das andere.

Bei dem, was wir bisher über die vereinte Wirkung der unter-
geordneten Stellung der Frauen und der gegenwärtigen Gestaltung
des ehelichen Lebens gesagt haben, hatten wir nur die allergünstigsten
Fälle im Auge, solche, in denen sich irgendwie eine wirkliche An-
näherung an jene Vereinigung und Verschmelzung von Leben und
Charakter vorfindet, welche der theoretischen Erörterung als der
ideale Maßstab dieses Verhältnisses gilt. Aber wenn wir uns
an die große Mehrzahl der Fälle halten, muß der Einfluß der
gesetzlichen Unterordnung der Frauen auf ihren Charakter wie auf
jenen der Männer in weit dunkleren Farben geschildert werden. Wir
sprechen hier nicht von roheren Mißhandlungen und nicht von dem
Recht des Mannes, den Erwerb der Frau mit Beschlag zu
belegen, oder sie gegen ihren Willen zu zwingen, mit ihm zu leben.
Wir wenden uns nicht an Jene, die einen Beweis dafür verlangen,
daß diese Dinge nicht bestehen sollten. Wir nehmen Durchschnitts-
fälle an, in denen weder völlige Harmonie noch völlige Unverein-
barkeit der Gefühle und Charaktere besteht, und wir behaupten,
daß in solchen Fällen die Abhängigkeit des Weibes auf den
Charakter beider schädigend einwirkt. Man glaubt allgemein,
daß, wie es auch immer mit dem geistigen Einfluß der Frauen
stehen mag, ihr moralischer Einfluß auf die Männer nahezu

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[21/0021] Ueber Frauenemancipation. Die modernen, für aufgeklärt und fortschrittlich geltenden Methoden der Frauenerziehung verwerfen, soweit es sich um Worte handelt, eine blos auf den Prunk berechnete Erziehung und geben vor, eine ernste Ausbildung anzustreben, aber sie verstehen darunter einen oberflächlichen Unterricht in ernsten Gegenständen. Von Fertig- keiten abgesehen, in Betreff deren man jetzt allgemein annimmt, sie sollen gut, wenn überhaupt gelehrt werden, wird nichts den Frauen gründlich gelehrt. Kleine Bruchtheile von dem, was man die Knaben gründlich zu lehren versucht, sind alles, was man den Frauen beizubringen wünscht oder beabsichtigt. Was die Menschen zu intelligenten Wesen macht, ist das Vermögen zu denken; die Anregungen, welche dieses Vermögen erwecken, sind der Reiz und die Würde des Denkens selbst und ein freies Feld für dessen praktische Anwendung. Diese beiden Beweggründe sind aber Jenen entzogen, welchen von Jugend auf gesagt wird, daß das Denken und alle seine wichtigeren Anwendungen die Sache anderer Leute ist, während es ihre Sache ist, sich anderen Leuten angenehm zu machen. Hohe Geisteskräfte werden unter den Frauen so lange zufällige Ausnahmen bleiben, bis ihnen jeder Lebensweg offen steht, und bis sie so gut wie die Männer für sich selbst und für die Welt er- zogen werden, nicht das eine Geschlecht für das andere. Bei dem, was wir bisher über die vereinte Wirkung der unter- geordneten Stellung der Frauen und der gegenwärtigen Gestaltung des ehelichen Lebens gesagt haben, hatten wir nur die allergünstigsten Fälle im Auge, solche, in denen sich irgendwie eine wirkliche An- näherung an jene Vereinigung und Verschmelzung von Leben und Charakter vorfindet, welche der theoretischen Erörterung als der ideale Maßstab dieses Verhältnisses gilt. Aber wenn wir uns an die große Mehrzahl der Fälle halten, muß der Einfluß der gesetzlichen Unterordnung der Frauen auf ihren Charakter wie auf jenen der Männer in weit dunkleren Farben geschildert werden. Wir sprechen hier nicht von roheren Mißhandlungen und nicht von dem Recht des Mannes, den Erwerb der Frau mit Beschlag zu belegen, oder sie gegen ihren Willen zu zwingen, mit ihm zu leben. Wir wenden uns nicht an Jene, die einen Beweis dafür verlangen, daß diese Dinge nicht bestehen sollten. Wir nehmen Durchschnitts- fälle an, in denen weder völlige Harmonie noch völlige Unverein- barkeit der Gefühle und Charaktere besteht, und wir behaupten, daß in solchen Fällen die Abhängigkeit des Weibes auf den Charakter beider schädigend einwirkt. Man glaubt allgemein, daß, wie es auch immer mit dem geistigen Einfluß der Frauen stehen mag, ihr moralischer Einfluß auf die Männer nahezu

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Zitationshilfe: Mill, John Stuart: Ueber Frauenemancipation. In: John Stuart Mill´s Gesammelte Werke. Leipzig, 1880. S. 1–29, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mill_frauenemancipation_1880/21>, abgerufen am 28.04.2024.