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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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IV. Schwindel -- Fußschau.
eine erlebte komische oder rührende Scene etc. Auf der näch-
sten Vorbildungsstufe suchte ich meine Augen in der Betrach-
tung tiefer und tiefer zu meinen Füßen liegender Punkte zu
gewöhnen, verfolgte hinabrollende Steine, beugte mich über
Geländer, schaute senkrecht in die Tiefe hinabgeworfenen
Papierbällchen nach, kletterte mit dem Blick an der senk-
rechten Wand auf und ab u. dergl. m. Geraume Zeit kostete
es, mit derartigen Exercitien auf Gipfeln mich zu befreun-
den, wenn starker Wind wehte. Erst als ich mich auch aus
dieser Classe mit dem Zeugniß der Reife entlassen konnte,
begannen, natürlich nie ohne Begleitung, die schwierigeren
Aufgaben, unter mehrfacher Wiederholung derselben, und
langsam steigender Dosis. --

Jeder, der einmal in einem öffentlichen Bade die an-
wesenden nackten Menschenfüße betrachtet hat, muß bemerkt
haben, daß sie fast ohne Ausnahme als Vorlagen zu einem
pathologischen Atlas dienen könnten. Was die Ursache davon
sein mag, Ungeschick der Schuhmacher? -- Kann unmöglich
so allgemein verbreitet sein. -- Sollte das ganze Gewerk den
Ruin eines der schönsten menschlichen Körpertheile zu seiner
Lebensaufgabe gemacht haben, blos aus teuflischer Freude am
Bösen? -- Auch nicht anzunehmen. Nach meiner Ansicht
ist die Wurzel der Hühneraugen und vieler sonstiger Fuß-
gebreste ein falscher Idealismus, welcher die Phantasie und
die bildnerische Thätigkeit der ehrsamen Meister beherrscht,
im Bunde mit der mißverstandenen Eitelkeit des verehrlichen
Publicums. Im gewöhnlichen Laufe der Dinge rächt nun
zwar die Natur derlei nur durch Schwielen, Leichdorn und
eingewachsene Nägel, handelt es sich jedoch darum, den Fuß
für anstrengende Wanderungen zu befähigen, wo von der
Sicherheit des Tritts so viel abhängt, so muß Sorge getra-
gen werden, die Folgen früherer Mißhandlungen möglichst
wieder gut zu machen.

Auch Deine Füße, mein lieber Wanderschüler, ich weiß
es, ohne sie zu sehen, haben unter dem Druck der Verhält-

IV. Schwindel — Fußſchau.
eine erlebte komiſche oder rührende Scene ꝛc. Auf der näch-
ſten Vorbildungsſtufe ſuchte ich meine Augen in der Betrach-
tung tiefer und tiefer zu meinen Füßen liegender Punkte zu
gewöhnen, verfolgte hinabrollende Steine, beugte mich über
Geländer, ſchaute ſenkrecht in die Tiefe hinabgeworfenen
Papierbällchen nach, kletterte mit dem Blick an der ſenk-
rechten Wand auf und ab u. dergl. m. Geraume Zeit koſtete
es, mit derartigen Exercitien auf Gipfeln mich zu befreun-
den, wenn ſtarker Wind wehte. Erſt als ich mich auch aus
dieſer Claſſe mit dem Zeugniß der Reife entlaſſen konnte,
begannen, natürlich nie ohne Begleitung, die ſchwierigeren
Aufgaben, unter mehrfacher Wiederholung derſelben, und
langſam ſteigender Doſis. —

Jeder, der einmal in einem öffentlichen Bade die an-
weſenden nackten Menſchenfüße betrachtet hat, muß bemerkt
haben, daß ſie faſt ohne Ausnahme als Vorlagen zu einem
pathologiſchen Atlas dienen könnten. Was die Urſache davon
ſein mag, Ungeſchick der Schuhmacher? — Kann unmöglich
ſo allgemein verbreitet ſein. — Sollte das ganze Gewerk den
Ruin eines der ſchönſten menſchlichen Körpertheile zu ſeiner
Lebensaufgabe gemacht haben, blos aus teufliſcher Freude am
Böſen? — Auch nicht anzunehmen. Nach meiner Anſicht
iſt die Wurzel der Hühneraugen und vieler ſonſtiger Fuß-
gebreſte ein falſcher Idealismus, welcher die Phantaſie und
die bildneriſche Thätigkeit der ehrſamen Meiſter beherrſcht,
im Bunde mit der mißverſtandenen Eitelkeit des verehrlichen
Publicums. Im gewöhnlichen Laufe der Dinge rächt nun
zwar die Natur derlei nur durch Schwielen, Leichdorn und
eingewachſene Nägel, handelt es ſich jedoch darum, den Fuß
für anſtrengende Wanderungen zu befähigen, wo von der
Sicherheit des Tritts ſo viel abhängt, ſo muß Sorge getra-
gen werden, die Folgen früherer Mißhandlungen möglichſt
wieder gut zu machen.

Auch Deine Füße, mein lieber Wanderſchüler, ich weiß
es, ohne ſie zu ſehen, haben unter dem Druck der Verhält-

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[84/0098] IV. Schwindel — Fußſchau. eine erlebte komiſche oder rührende Scene ꝛc. Auf der näch- ſten Vorbildungsſtufe ſuchte ich meine Augen in der Betrach- tung tiefer und tiefer zu meinen Füßen liegender Punkte zu gewöhnen, verfolgte hinabrollende Steine, beugte mich über Geländer, ſchaute ſenkrecht in die Tiefe hinabgeworfenen Papierbällchen nach, kletterte mit dem Blick an der ſenk- rechten Wand auf und ab u. dergl. m. Geraume Zeit koſtete es, mit derartigen Exercitien auf Gipfeln mich zu befreun- den, wenn ſtarker Wind wehte. Erſt als ich mich auch aus dieſer Claſſe mit dem Zeugniß der Reife entlaſſen konnte, begannen, natürlich nie ohne Begleitung, die ſchwierigeren Aufgaben, unter mehrfacher Wiederholung derſelben, und langſam ſteigender Doſis. — Jeder, der einmal in einem öffentlichen Bade die an- weſenden nackten Menſchenfüße betrachtet hat, muß bemerkt haben, daß ſie faſt ohne Ausnahme als Vorlagen zu einem pathologiſchen Atlas dienen könnten. Was die Urſache davon ſein mag, Ungeſchick der Schuhmacher? — Kann unmöglich ſo allgemein verbreitet ſein. — Sollte das ganze Gewerk den Ruin eines der ſchönſten menſchlichen Körpertheile zu ſeiner Lebensaufgabe gemacht haben, blos aus teufliſcher Freude am Böſen? — Auch nicht anzunehmen. Nach meiner Anſicht iſt die Wurzel der Hühneraugen und vieler ſonſtiger Fuß- gebreſte ein falſcher Idealismus, welcher die Phantaſie und die bildneriſche Thätigkeit der ehrſamen Meiſter beherrſcht, im Bunde mit der mißverſtandenen Eitelkeit des verehrlichen Publicums. Im gewöhnlichen Laufe der Dinge rächt nun zwar die Natur derlei nur durch Schwielen, Leichdorn und eingewachſene Nägel, handelt es ſich jedoch darum, den Fuß für anſtrengende Wanderungen zu befähigen, wo von der Sicherheit des Tritts ſo viel abhängt, ſo muß Sorge getra- gen werden, die Folgen früherer Mißhandlungen möglichſt wieder gut zu machen. Auch Deine Füße, mein lieber Wanderſchüler, ich weiß es, ohne ſie zu ſehen, haben unter dem Druck der Verhält-

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/98>, abgerufen am 04.05.2024.