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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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IV. Führer -- Schwindel.
sieht, nicht mehr gar viel Aufmerksamkeit zu widmen. Sie
nehmen an, daß er in ähnlichen Fällen sich stets ähnlich be-
nehmen werde, fast so wie Einer der Ihrigen, der Jahr aus
Jahr ein mit dem Hochgebirg und seinen Gefahren auf in-
timstem Fuße verkehrt. Kommt dann irgend etwas vor, wor-
aus der Mann merkt, daß seine Meinung von der alpinen
Bildung des Touristen doch eine zu hohe war, so kann er
wohl, wenn nicht etwa ein Unglück geschehen, recht herzlich
grob werden. Wie es scheint, stürmen in solchen Augen-
blicken auf die wackere Führerseele zu mächtige und wider-
streitende Gefühle ein, als daß er nicht das Verhältniß vom
Herrn zum Diener, das Attest, das Trinkgeld, alles Dinge,
die sonst seinem Herzen nahe genug sind, vergessen und ganz
naiv sein sollte. Schrecken und Beschämung über eigene und
fremde Unvorsichtigkeit und Freude darüber, daß Alles noch
gut abgelaufen, theilt natürlich der Geführte mit dem Führer,
wird deshalb mehr geneigt sein, die Sache von ihrer komi-
schen Seite aufzufassen, als diesen hart anzulassen.

Wer Lust und Liebe hat zum Bergsteigen und körperlich
befähigt dafür ist, braucht sich nicht gleich abschrecken zu lassen,
wenn er etwas Anlage zum Schwindel an sich bemerkt,
denn derselbe kann durch methodische Uebung unterdrückt wer-
den, wie ich an mir selbst erfahren habe. Meine Natur neigte
von Haus aus sehr zum Schwindel und doch ist es mir ge-
lungen, mich dahin zu bringen, daß ich, allerdings erst nach
längerer Uebung, mit Aelplern um die Wette zu klettern ver-
mochte und von solchen -- auch von unbezahlten -- Aner-
kennung erntete, welcher man die Aufrichtigkeit anfühlte. In
meinen Uebungen verfuhr ich nach alten pädagogischen und
psychologischen Regeln: bestieg anfangs geschützte Höhe-
punkte wieder und wieder, heftete, so wie die ersten Anzeichen
des Schwindels sich bemerkbar machten (principiis obsta), die
Augen auf einen nahen Punkt, richtete aber die Gedanken
auf eine entfernte Sache oder Person, auf denen sie gern zu
weilen pflegten, z. B. Angehörige, Freunde, Studienobjecte,

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IV. Führer — Schwindel.
ſieht, nicht mehr gar viel Aufmerkſamkeit zu widmen. Sie
nehmen an, daß er in ähnlichen Fällen ſich ſtets ähnlich be-
nehmen werde, faſt ſo wie Einer der Ihrigen, der Jahr aus
Jahr ein mit dem Hochgebirg und ſeinen Gefahren auf in-
timſtem Fuße verkehrt. Kommt dann irgend etwas vor, wor-
aus der Mann merkt, daß ſeine Meinung von der alpinen
Bildung des Touriſten doch eine zu hohe war, ſo kann er
wohl, wenn nicht etwa ein Unglück geſchehen, recht herzlich
grob werden. Wie es ſcheint, ſtürmen in ſolchen Augen-
blicken auf die wackere Führerſeele zu mächtige und wider-
ſtreitende Gefühle ein, als daß er nicht das Verhältniß vom
Herrn zum Diener, das Atteſt, das Trinkgeld, alles Dinge,
die ſonſt ſeinem Herzen nahe genug ſind, vergeſſen und ganz
naiv ſein ſollte. Schrecken und Beſchämung über eigene und
fremde Unvorſichtigkeit und Freude darüber, daß Alles noch
gut abgelaufen, theilt natürlich der Geführte mit dem Führer,
wird deshalb mehr geneigt ſein, die Sache von ihrer komi-
ſchen Seite aufzufaſſen, als dieſen hart anzulaſſen.

Wer Luſt und Liebe hat zum Bergſteigen und körperlich
befähigt dafür iſt, braucht ſich nicht gleich abſchrecken zu laſſen,
wenn er etwas Anlage zum Schwindel an ſich bemerkt,
denn derſelbe kann durch methodiſche Uebung unterdrückt wer-
den, wie ich an mir ſelbſt erfahren habe. Meine Natur neigte
von Haus aus ſehr zum Schwindel und doch iſt es mir ge-
lungen, mich dahin zu bringen, daß ich, allerdings erſt nach
längerer Uebung, mit Aelplern um die Wette zu klettern ver-
mochte und von ſolchen — auch von unbezahlten — Aner-
kennung erntete, welcher man die Aufrichtigkeit anfühlte. In
meinen Uebungen verfuhr ich nach alten pädagogiſchen und
pſychologiſchen Regeln: beſtieg anfangs geſchützte Höhe-
punkte wieder und wieder, heftete, ſo wie die erſten Anzeichen
des Schwindels ſich bemerkbar machten (principiis obsta), die
Augen auf einen nahen Punkt, richtete aber die Gedanken
auf eine entfernte Sache oder Perſon, auf denen ſie gern zu
weilen pflegten, z. B. Angehörige, Freunde, Studienobjecte,

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[83/0097] IV. Führer — Schwindel. ſieht, nicht mehr gar viel Aufmerkſamkeit zu widmen. Sie nehmen an, daß er in ähnlichen Fällen ſich ſtets ähnlich be- nehmen werde, faſt ſo wie Einer der Ihrigen, der Jahr aus Jahr ein mit dem Hochgebirg und ſeinen Gefahren auf in- timſtem Fuße verkehrt. Kommt dann irgend etwas vor, wor- aus der Mann merkt, daß ſeine Meinung von der alpinen Bildung des Touriſten doch eine zu hohe war, ſo kann er wohl, wenn nicht etwa ein Unglück geſchehen, recht herzlich grob werden. Wie es ſcheint, ſtürmen in ſolchen Augen- blicken auf die wackere Führerſeele zu mächtige und wider- ſtreitende Gefühle ein, als daß er nicht das Verhältniß vom Herrn zum Diener, das Atteſt, das Trinkgeld, alles Dinge, die ſonſt ſeinem Herzen nahe genug ſind, vergeſſen und ganz naiv ſein ſollte. Schrecken und Beſchämung über eigene und fremde Unvorſichtigkeit und Freude darüber, daß Alles noch gut abgelaufen, theilt natürlich der Geführte mit dem Führer, wird deshalb mehr geneigt ſein, die Sache von ihrer komi- ſchen Seite aufzufaſſen, als dieſen hart anzulaſſen. Wer Luſt und Liebe hat zum Bergſteigen und körperlich befähigt dafür iſt, braucht ſich nicht gleich abſchrecken zu laſſen, wenn er etwas Anlage zum Schwindel an ſich bemerkt, denn derſelbe kann durch methodiſche Uebung unterdrückt wer- den, wie ich an mir ſelbſt erfahren habe. Meine Natur neigte von Haus aus ſehr zum Schwindel und doch iſt es mir ge- lungen, mich dahin zu bringen, daß ich, allerdings erſt nach längerer Uebung, mit Aelplern um die Wette zu klettern ver- mochte und von ſolchen — auch von unbezahlten — Aner- kennung erntete, welcher man die Aufrichtigkeit anfühlte. In meinen Uebungen verfuhr ich nach alten pädagogiſchen und pſychologiſchen Regeln: beſtieg anfangs geſchützte Höhe- punkte wieder und wieder, heftete, ſo wie die erſten Anzeichen des Schwindels ſich bemerkbar machten (principiis obsta), die Augen auf einen nahen Punkt, richtete aber die Gedanken auf eine entfernte Sache oder Perſon, auf denen ſie gern zu weilen pflegten, z. B. Angehörige, Freunde, Studienobjecte, 6*

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/97>, abgerufen am 24.11.2024.