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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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IV. Uebertreibungen -- Führer.
der Reiz, das eigene Menschenvermögen am rohen Wider-
stande des Staubes zu messen. Es ist vielleicht die Sehnsucht
des Herrn der Erde, auf der letzten überwundenen Höhe im
Ueberblick der ihm zu Füßen liegenden Welt das Bewußtsein
seiner Verwandtschaft mit dem Unendlichen durch eine einzige
freie That zu besiegeln." (Tschudi.)

Im Allgemeinen läßt sich behaupten, daß die Gefahren
und Schwierigkeiten der Ersteigungen selbst der höchsten
Alpengipfel bei weitem nicht so groß sind, wie es nach münd-
lichen und gedruckten Berichten den Anschein hat. Je häufiger
sie in neuerer Zeit werden, je mehr überzeugt man sich da-
von. Hierin wieder bestätigt sich der alte Satz, daß wir Ge-
fahren und Schwierigkeiten, wenn sie zum ersten Male an
uns herantreten, viel zu hoch anschlagen. Vermochten sogar
Männer, wie Saussure, an deren Muth, Entschlossenheit,
geistiger Klarheit und gutem Glauben kein Zweifel erlaubt
ist, sich von Uebertreibungen nicht frei zu halten, wie dürfen
wir von jungen Leuten, die vom Montblanc oder Monte
Rosa herabkommen und die es drängt, von ihren Eindrücken
und Leistungen zu berichten, erwarten, daß jede ihrer An-
gaben richtig und genau ist! Hr. Lesley Stephen, der Vor-
sitzende des londoner Alpenclubs, erzählt in seinem Aufsatz
über alpine Gefahren (Alp. Journ. 1866. II, 273 -- 285),
daß seit dem ersten Sommer, den er in den Alpen zugebracht,
mehr als ein Berg in der öffentlichen Meinung alle Stadien
abwärts durchgemacht hat, von "unersteiglich" und "der
schwierigste Punkt der Alpen" bis "eine tüchtige Kletterpartie,
aber keine Hexerei", "ein regelrechtes Stück Arbeit" und
schließlich "ein leichtes Tagewerk für Damen".

Das Führerwesen ist in der Schweiz von den Be-
hörden schon seit langer Zeit geregelt, wird fortwährend
von ihnen beaufsichtigt, und von vielen Führern (freilich nicht
von allen) läßt sich sagen, daß sie an Ortskenntniß, Besonnen-
heit, Aufmerksamkeit, Ausdauer und Pflichttreue nichts zu
wünschen übrig lassen; einige sogar sind unter ihnen, welche

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IV. Uebertreibungen — Führer.
der Reiz, das eigene Menſchenvermögen am rohen Wider-
ſtande des Staubes zu meſſen. Es iſt vielleicht die Sehnſucht
des Herrn der Erde, auf der letzten überwundenen Höhe im
Ueberblick der ihm zu Füßen liegenden Welt das Bewußtſein
ſeiner Verwandtſchaft mit dem Unendlichen durch eine einzige
freie That zu beſiegeln.“ (Tſchudi.)

Im Allgemeinen läßt ſich behaupten, daß die Gefahren
und Schwierigkeiten der Erſteigungen ſelbſt der höchſten
Alpengipfel bei weitem nicht ſo groß ſind, wie es nach münd-
lichen und gedruckten Berichten den Anſchein hat. Je häufiger
ſie in neuerer Zeit werden, je mehr überzeugt man ſich da-
von. Hierin wieder beſtätigt ſich der alte Satz, daß wir Ge-
fahren und Schwierigkeiten, wenn ſie zum erſten Male an
uns herantreten, viel zu hoch anſchlagen. Vermochten ſogar
Männer, wie Sauſſure, an deren Muth, Entſchloſſenheit,
geiſtiger Klarheit und gutem Glauben kein Zweifel erlaubt
iſt, ſich von Uebertreibungen nicht frei zu halten, wie dürfen
wir von jungen Leuten, die vom Montblanc oder Monte
Roſa herabkommen und die es drängt, von ihren Eindrücken
und Leiſtungen zu berichten, erwarten, daß jede ihrer An-
gaben richtig und genau iſt! Hr. Lesley Stephen, der Vor-
ſitzende des londoner Alpenclubs, erzählt in ſeinem Aufſatz
über alpine Gefahren (Alp. Journ. 1866. II, 273 — 285),
daß ſeit dem erſten Sommer, den er in den Alpen zugebracht,
mehr als ein Berg in der öffentlichen Meinung alle Stadien
abwärts durchgemacht hat, von „unerſteiglich“ und „der
ſchwierigſte Punkt der Alpen“ bis „eine tüchtige Kletterpartie,
aber keine Hexerei“, „ein regelrechtes Stück Arbeit“ und
ſchließlich „ein leichtes Tagewerk für Damen“.

Das Führerweſen iſt in der Schweiz von den Be-
hörden ſchon ſeit langer Zeit geregelt, wird fortwährend
von ihnen beaufſichtigt, und von vielen Führern (freilich nicht
von allen) läßt ſich ſagen, daß ſie an Ortskenntniß, Beſonnen-
heit, Aufmerkſamkeit, Ausdauer und Pflichttreue nichts zu
wünſchen übrig laſſen; einige ſogar ſind unter ihnen, welche

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[81/0095] IV. Uebertreibungen — Führer. der Reiz, das eigene Menſchenvermögen am rohen Wider- ſtande des Staubes zu meſſen. Es iſt vielleicht die Sehnſucht des Herrn der Erde, auf der letzten überwundenen Höhe im Ueberblick der ihm zu Füßen liegenden Welt das Bewußtſein ſeiner Verwandtſchaft mit dem Unendlichen durch eine einzige freie That zu beſiegeln.“ (Tſchudi.) Im Allgemeinen läßt ſich behaupten, daß die Gefahren und Schwierigkeiten der Erſteigungen ſelbſt der höchſten Alpengipfel bei weitem nicht ſo groß ſind, wie es nach münd- lichen und gedruckten Berichten den Anſchein hat. Je häufiger ſie in neuerer Zeit werden, je mehr überzeugt man ſich da- von. Hierin wieder beſtätigt ſich der alte Satz, daß wir Ge- fahren und Schwierigkeiten, wenn ſie zum erſten Male an uns herantreten, viel zu hoch anſchlagen. Vermochten ſogar Männer, wie Sauſſure, an deren Muth, Entſchloſſenheit, geiſtiger Klarheit und gutem Glauben kein Zweifel erlaubt iſt, ſich von Uebertreibungen nicht frei zu halten, wie dürfen wir von jungen Leuten, die vom Montblanc oder Monte Roſa herabkommen und die es drängt, von ihren Eindrücken und Leiſtungen zu berichten, erwarten, daß jede ihrer An- gaben richtig und genau iſt! Hr. Lesley Stephen, der Vor- ſitzende des londoner Alpenclubs, erzählt in ſeinem Aufſatz über alpine Gefahren (Alp. Journ. 1866. II, 273 — 285), daß ſeit dem erſten Sommer, den er in den Alpen zugebracht, mehr als ein Berg in der öffentlichen Meinung alle Stadien abwärts durchgemacht hat, von „unerſteiglich“ und „der ſchwierigſte Punkt der Alpen“ bis „eine tüchtige Kletterpartie, aber keine Hexerei“, „ein regelrechtes Stück Arbeit“ und ſchließlich „ein leichtes Tagewerk für Damen“. Das Führerweſen iſt in der Schweiz von den Be- hörden ſchon ſeit langer Zeit geregelt, wird fortwährend von ihnen beaufſichtigt, und von vielen Führern (freilich nicht von allen) läßt ſich ſagen, daß ſie an Ortskenntniß, Beſonnen- heit, Aufmerkſamkeit, Ausdauer und Pflichttreue nichts zu wünſchen übrig laſſen; einige ſogar ſind unter ihnen, welche 6

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/95>, abgerufen am 22.11.2024.