Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

III. Vorsichtsmaßregeln -- Fahrbillets, Gepäckscheine.
Passagiere unter uns. Man darf nur einen Eisenbahn-
schaffner auf das Thema bringen, um neunundneunzig Ge-
schichten zu hören von verlorenen, verlegten, "verstochenen"
Fahrkarten. So manche komische habe ich mit angesehen,
eine davon auch in einer Reihe von Bleistiftskizzen wieder-
zugeben versucht und wünschte nur, daß ein Genremaler von
Beruf sich des Gegenstandes einmal bemächtigte.

Die erste meiner Skizzen stellt ein gefülltes Coupe dar.
Einer der Herren, ein ehrbar aussehender Greis, hat das
Wort, alle Andern hängen mit den Augen an seinen Lippen.
Zweites Bild: das Gespräch ist unterbrochen, der Schaffner
draußen in halber Figur sichtbar, ihm entgegen strecken sich
fünf Hände, nur die beiden des alten Herrn, der sich in
halbgebückter Stellung erhoben hat, stecken in verschiedenen
Taschen und suchen. Folgende Bilder: er sucht und sucht,
einige Taschen haben sich umgekehrt und ihren Inhalt aus-
gestreut, darunter Manches, das besser im Verborgenen ge-
blieben wäre. In den Zügen der Zuschauer kämpfen Mit-
gefühl und Heiterkeit, aus ihren Geberden geht hervor, daß
Niemand mit seinem Rathe zurückhält, wo das Vermißte wohl
sein könnte. Im Hintergrunde, durch das Wagenfenster ein-
gerahmt, das Bruststück des Conducteurs; sein bärtiges Ge-
sicht blickt immer amtlicher, zuletzt mißtrauisch, criminalistisch.
In der Rechten, zum Schlag hereinragend, hält er die wohl-
bekannte Coupirmaschine, die anfangs wie ein gutgelaunter
Nußknacker aussieht, allmählich aber, näher und näher rückend,
im Einklang mit den Gemüthsbewegungen ihres Inhabers,
immer drohendere, phantastische Mienen und größere Dimen-
sionen annimmt, in ein Zahnbrecherinstrument verwandelt
scheint, dann in eine glühende Marterzange, zuletzt Aehnlich-
keit mit einem Haifisch- oder Höllenrachen hat. Letztes Bild:
der kleine Flüchtling ist glücklich erwischt, und zwar im
Stiefel, wohin er durch ein Loch in der oberen Ecke der
Hosentasche entsprungen war. Freude ringsum. Selbst
die Zange macht wieder ihr joviales Nußknackergesicht. Nur

III. Vorſichtsmaßregeln — Fahrbillets, Gepäckſcheine.
Paſſagiere unter uns. Man darf nur einen Eiſenbahn-
ſchaffner auf das Thema bringen, um neunundneunzig Ge-
ſchichten zu hören von verlorenen, verlegten, „verſtochenen“
Fahrkarten. So manche komiſche habe ich mit angeſehen,
eine davon auch in einer Reihe von Bleiſtiftſkizzen wieder-
zugeben verſucht und wünſchte nur, daß ein Genremaler von
Beruf ſich des Gegenſtandes einmal bemächtigte.

Die erſte meiner Skizzen ſtellt ein gefülltes Coupé dar.
Einer der Herren, ein ehrbar ausſehender Greis, hat das
Wort, alle Andern hängen mit den Augen an ſeinen Lippen.
Zweites Bild: das Geſpräch iſt unterbrochen, der Schaffner
draußen in halber Figur ſichtbar, ihm entgegen ſtrecken ſich
fünf Hände, nur die beiden des alten Herrn, der ſich in
halbgebückter Stellung erhoben hat, ſtecken in verſchiedenen
Taſchen und ſuchen. Folgende Bilder: er ſucht und ſucht,
einige Taſchen haben ſich umgekehrt und ihren Inhalt aus-
geſtreut, darunter Manches, das beſſer im Verborgenen ge-
blieben wäre. In den Zügen der Zuſchauer kämpfen Mit-
gefühl und Heiterkeit, aus ihren Geberden geht hervor, daß
Niemand mit ſeinem Rathe zurückhält, wo das Vermißte wohl
ſein könnte. Im Hintergrunde, durch das Wagenfenſter ein-
gerahmt, das Bruſtſtück des Conducteurs; ſein bärtiges Ge-
ſicht blickt immer amtlicher, zuletzt mißtrauiſch, criminaliſtiſch.
In der Rechten, zum Schlag hereinragend, hält er die wohl-
bekannte Coupirmaſchine, die anfangs wie ein gutgelaunter
Nußknacker ausſieht, allmählich aber, näher und näher rückend,
im Einklang mit den Gemüthsbewegungen ihres Inhabers,
immer drohendere, phantaſtiſche Mienen und größere Dimen-
ſionen annimmt, in ein Zahnbrecherinſtrument verwandelt
ſcheint, dann in eine glühende Marterzange, zuletzt Aehnlich-
keit mit einem Haifiſch- oder Höllenrachen hat. Letztes Bild:
der kleine Flüchtling iſt glücklich erwiſcht, und zwar im
Stiefel, wohin er durch ein Loch in der oberen Ecke der
Hoſentaſche entſprungen war. Freude ringsum. Selbſt
die Zange macht wieder ihr joviales Nußknackergeſicht. Nur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0060" n="46"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> Vor&#x017F;ichtsmaßregeln &#x2014; Fahrbillets, Gepäck&#x017F;cheine.</fw><lb/>
Pa&#x017F;&#x017F;agiere unter uns. Man darf nur einen Ei&#x017F;enbahn-<lb/>
&#x017F;chaffner auf das Thema bringen, um neunundneunzig Ge-<lb/>
&#x017F;chichten zu hören von verlorenen, verlegten, &#x201E;ver&#x017F;tochenen&#x201C;<lb/>
Fahrkarten. So manche komi&#x017F;che habe ich mit ange&#x017F;ehen,<lb/>
eine davon auch in einer Reihe von Blei&#x017F;tift&#x017F;kizzen wieder-<lb/>
zugeben ver&#x017F;ucht und wün&#x017F;chte nur, daß ein Genremaler von<lb/>
Beruf &#x017F;ich des Gegen&#x017F;tandes einmal bemächtigte.</p><lb/>
        <p>Die er&#x017F;te meiner Skizzen &#x017F;tellt ein gefülltes Coup<hi rendition="#aq">é</hi> dar.<lb/>
Einer der Herren, ein ehrbar aus&#x017F;ehender Greis, hat das<lb/>
Wort, alle Andern hängen mit den Augen an &#x017F;einen Lippen.<lb/>
Zweites Bild: das Ge&#x017F;präch i&#x017F;t unterbrochen, der Schaffner<lb/>
draußen in halber Figur &#x017F;ichtbar, ihm entgegen &#x017F;trecken &#x017F;ich<lb/>
fünf Hände, nur die beiden des alten Herrn, der &#x017F;ich in<lb/>
halbgebückter Stellung erhoben hat, &#x017F;tecken in ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Ta&#x017F;chen und &#x017F;uchen. Folgende Bilder: er &#x017F;ucht und &#x017F;ucht,<lb/>
einige Ta&#x017F;chen haben &#x017F;ich umgekehrt und ihren Inhalt aus-<lb/>
ge&#x017F;treut, darunter Manches, das be&#x017F;&#x017F;er im Verborgenen ge-<lb/>
blieben wäre. In den Zügen der Zu&#x017F;chauer kämpfen Mit-<lb/>
gefühl und Heiterkeit, aus ihren Geberden geht hervor, daß<lb/>
Niemand mit &#x017F;einem Rathe zurückhält, wo das Vermißte wohl<lb/>
&#x017F;ein könnte. Im Hintergrunde, durch das Wagenfen&#x017F;ter ein-<lb/>
gerahmt, das Bru&#x017F;t&#x017F;tück des Conducteurs; &#x017F;ein bärtiges Ge-<lb/>
&#x017F;icht blickt immer amtlicher, zuletzt mißtraui&#x017F;ch, criminali&#x017F;ti&#x017F;ch.<lb/>
In der Rechten, zum Schlag hereinragend, hält er die wohl-<lb/>
bekannte Coupirma&#x017F;chine, die anfangs wie ein gutgelaunter<lb/>
Nußknacker aus&#x017F;ieht, allmählich aber, näher und näher rückend,<lb/>
im Einklang mit den Gemüthsbewegungen ihres Inhabers,<lb/>
immer drohendere, phanta&#x017F;ti&#x017F;che Mienen und größere Dimen-<lb/>
&#x017F;ionen annimmt, in ein Zahnbrecherin&#x017F;trument verwandelt<lb/>
&#x017F;cheint, dann in eine glühende Marterzange, zuletzt Aehnlich-<lb/>
keit mit einem Haifi&#x017F;ch- oder Höllenrachen hat. Letztes Bild:<lb/>
der kleine Flüchtling i&#x017F;t glücklich erwi&#x017F;cht, und zwar im<lb/>
Stiefel, wohin er durch ein Loch in der oberen Ecke der<lb/>
Ho&#x017F;enta&#x017F;che ent&#x017F;prungen war. Freude ringsum. Selb&#x017F;t<lb/>
die Zange macht wieder ihr joviales Nußknackerge&#x017F;icht. Nur<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0060] III. Vorſichtsmaßregeln — Fahrbillets, Gepäckſcheine. Paſſagiere unter uns. Man darf nur einen Eiſenbahn- ſchaffner auf das Thema bringen, um neunundneunzig Ge- ſchichten zu hören von verlorenen, verlegten, „verſtochenen“ Fahrkarten. So manche komiſche habe ich mit angeſehen, eine davon auch in einer Reihe von Bleiſtiftſkizzen wieder- zugeben verſucht und wünſchte nur, daß ein Genremaler von Beruf ſich des Gegenſtandes einmal bemächtigte. Die erſte meiner Skizzen ſtellt ein gefülltes Coupé dar. Einer der Herren, ein ehrbar ausſehender Greis, hat das Wort, alle Andern hängen mit den Augen an ſeinen Lippen. Zweites Bild: das Geſpräch iſt unterbrochen, der Schaffner draußen in halber Figur ſichtbar, ihm entgegen ſtrecken ſich fünf Hände, nur die beiden des alten Herrn, der ſich in halbgebückter Stellung erhoben hat, ſtecken in verſchiedenen Taſchen und ſuchen. Folgende Bilder: er ſucht und ſucht, einige Taſchen haben ſich umgekehrt und ihren Inhalt aus- geſtreut, darunter Manches, das beſſer im Verborgenen ge- blieben wäre. In den Zügen der Zuſchauer kämpfen Mit- gefühl und Heiterkeit, aus ihren Geberden geht hervor, daß Niemand mit ſeinem Rathe zurückhält, wo das Vermißte wohl ſein könnte. Im Hintergrunde, durch das Wagenfenſter ein- gerahmt, das Bruſtſtück des Conducteurs; ſein bärtiges Ge- ſicht blickt immer amtlicher, zuletzt mißtrauiſch, criminaliſtiſch. In der Rechten, zum Schlag hereinragend, hält er die wohl- bekannte Coupirmaſchine, die anfangs wie ein gutgelaunter Nußknacker ausſieht, allmählich aber, näher und näher rückend, im Einklang mit den Gemüthsbewegungen ihres Inhabers, immer drohendere, phantaſtiſche Mienen und größere Dimen- ſionen annimmt, in ein Zahnbrecherinſtrument verwandelt ſcheint, dann in eine glühende Marterzange, zuletzt Aehnlich- keit mit einem Haifiſch- oder Höllenrachen hat. Letztes Bild: der kleine Flüchtling iſt glücklich erwiſcht, und zwar im Stiefel, wohin er durch ein Loch in der oberen Ecke der Hoſentaſche entſprungen war. Freude ringsum. Selbſt die Zange macht wieder ihr joviales Nußknackergeſicht. Nur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/60
Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/60>, abgerufen am 22.11.2024.