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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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III. Nothbehelfe in Robinsonverhältnissen.
ihnen die Zweckmäßigkeit der Maßregel einzuleuchten anfing,
kümmerte mich auch nicht weiter darum, sondern kehrte ihnen
den Rücken und betrachtete den Gletscher, der mich wieder an-
blickte, wie ein Potentat den andern, hörte bald darauf Pa-
pier rascheln und nach wenigen Minuten war Alles in Ord-
nung. Neues Gelächter, neues Geplauder. In Bellaggio
trennten wir uns. Am nächsten Christfest überraschte mich
ein Paket aus Deutschland, welchem ich zwei Briefe, die
weitere Aufklärung gaben, und eine Schreibmappe entnahm,
deren Deckel eine bildliche Darstellung der erzählten Scene
enthielt, rundum in gobelinartiger Stickerei einen Lorbeer-
kranz und die Worte: Dem Retter meines theuren Eheherrn.

An Histörchen der Art war unser Reiseschulmeister uner-
schöpflich. In der Regel schienen sie darauf berechnet, einen
Paragraphen seines Gesetzbuchs anschaulich zu machen oder
einzuschärfen und schlossen mit einer Sentenz oder einem
Sprüchwort. Hin und wieder fügte er in dogmatischem Tone
allgemeine Betrachtungen hinzu, wie z. B. hier.

-- Je mehr wir reisen, je häufiger ist Gelegenheit und
zugleich Ursache, das zu lernen und zu üben, was wir to
make shift
nennen: sich zu helfen wissen, sich durchschlagen,
denn die Reise versetzt uns oft in Robinsonverhältnisse und
da gilt es, das alte deutsche Sprüchwort zu beherzigen, "Alles
zu brauchen, wozu es gut ist," mit andren Worten, von der
breiten Bahn des Gewohnten, sobald sie uns nicht zum Ziele
führt, abzugehen und neue Wege zu suchen. Stücke des In-
ventars mögen zum Opfer fallen, indem man sie zu einem
ihrer ursprünglichen Bestimmung fremden Zwecke benutzt;
denn: "keine Omelette ohne zerbrochene Eier." Ein für alle-
mal bemerke ich aber, daß ich Euch, Ihr Herren, nicht zu
gedankenlosen Nachahmern, sondern zu selbständigen Reise-
virtuosen zu erziehen wünsche, deshalb fordere ich ausdrück-
lich auf, keinem meiner Rathschläge blindlings zu folgen. Ich
wäre ein schlechter Pädagog, wenn ich nicht auch hier und da
darauf ausginge, Eure Aufmerksamkeit, Euren Scharfsinn und

III. Nothbehelfe in Robinſonverhältniſſen.
ihnen die Zweckmäßigkeit der Maßregel einzuleuchten anfing,
kümmerte mich auch nicht weiter darum, ſondern kehrte ihnen
den Rücken und betrachtete den Gletſcher, der mich wieder an-
blickte, wie ein Potentat den andern, hörte bald darauf Pa-
pier raſcheln und nach wenigen Minuten war Alles in Ord-
nung. Neues Gelächter, neues Geplauder. In Bellaggio
trennten wir uns. Am nächſten Chriſtfeſt überraſchte mich
ein Paket aus Deutſchland, welchem ich zwei Briefe, die
weitere Aufklärung gaben, und eine Schreibmappe entnahm,
deren Deckel eine bildliche Darſtellung der erzählten Scene
enthielt, rundum in gobelinartiger Stickerei einen Lorbeer-
kranz und die Worte: Dem Retter meines theuren Eheherrn.

An Hiſtörchen der Art war unſer Reiſeſchulmeiſter uner-
ſchöpflich. In der Regel ſchienen ſie darauf berechnet, einen
Paragraphen ſeines Geſetzbuchs anſchaulich zu machen oder
einzuſchärfen und ſchloſſen mit einer Sentenz oder einem
Sprüchwort. Hin und wieder fügte er in dogmatiſchem Tone
allgemeine Betrachtungen hinzu, wie z. B. hier.

— Je mehr wir reiſen, je häufiger iſt Gelegenheit und
zugleich Urſache, das zu lernen und zu üben, was wir to
make shift
nennen: ſich zu helfen wiſſen, ſich durchſchlagen,
denn die Reiſe verſetzt uns oft in Robinſonverhältniſſe und
da gilt es, das alte deutſche Sprüchwort zu beherzigen, „Alles
zu brauchen, wozu es gut iſt,“ mit andren Worten, von der
breiten Bahn des Gewohnten, ſobald ſie uns nicht zum Ziele
führt, abzugehen und neue Wege zu ſuchen. Stücke des In-
ventars mögen zum Opfer fallen, indem man ſie zu einem
ihrer urſprünglichen Beſtimmung fremden Zwecke benutzt;
denn: „keine Omelette ohne zerbrochene Eier.“ Ein für alle-
mal bemerke ich aber, daß ich Euch, Ihr Herren, nicht zu
gedankenloſen Nachahmern, ſondern zu ſelbſtändigen Reiſe-
virtuoſen zu erziehen wünſche, deshalb fordere ich ausdrück-
lich auf, keinem meiner Rathſchläge blindlings zu folgen. Ich
wäre ein ſchlechter Pädagog, wenn ich nicht auch hier und da
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[32/0046] III. Nothbehelfe in Robinſonverhältniſſen. ihnen die Zweckmäßigkeit der Maßregel einzuleuchten anfing, kümmerte mich auch nicht weiter darum, ſondern kehrte ihnen den Rücken und betrachtete den Gletſcher, der mich wieder an- blickte, wie ein Potentat den andern, hörte bald darauf Pa- pier raſcheln und nach wenigen Minuten war Alles in Ord- nung. Neues Gelächter, neues Geplauder. In Bellaggio trennten wir uns. Am nächſten Chriſtfeſt überraſchte mich ein Paket aus Deutſchland, welchem ich zwei Briefe, die weitere Aufklärung gaben, und eine Schreibmappe entnahm, deren Deckel eine bildliche Darſtellung der erzählten Scene enthielt, rundum in gobelinartiger Stickerei einen Lorbeer- kranz und die Worte: Dem Retter meines theuren Eheherrn. An Hiſtörchen der Art war unſer Reiſeſchulmeiſter uner- ſchöpflich. In der Regel ſchienen ſie darauf berechnet, einen Paragraphen ſeines Geſetzbuchs anſchaulich zu machen oder einzuſchärfen und ſchloſſen mit einer Sentenz oder einem Sprüchwort. Hin und wieder fügte er in dogmatiſchem Tone allgemeine Betrachtungen hinzu, wie z. B. hier. — Je mehr wir reiſen, je häufiger iſt Gelegenheit und zugleich Urſache, das zu lernen und zu üben, was wir to make shift nennen: ſich zu helfen wiſſen, ſich durchſchlagen, denn die Reiſe verſetzt uns oft in Robinſonverhältniſſe und da gilt es, das alte deutſche Sprüchwort zu beherzigen, „Alles zu brauchen, wozu es gut iſt,“ mit andren Worten, von der breiten Bahn des Gewohnten, ſobald ſie uns nicht zum Ziele führt, abzugehen und neue Wege zu ſuchen. Stücke des In- ventars mögen zum Opfer fallen, indem man ſie zu einem ihrer urſprünglichen Beſtimmung fremden Zwecke benutzt; denn: „keine Omelette ohne zerbrochene Eier.“ Ein für alle- mal bemerke ich aber, daß ich Euch, Ihr Herren, nicht zu gedankenloſen Nachahmern, ſondern zu ſelbſtändigen Reiſe- virtuoſen zu erziehen wünſche, deshalb fordere ich ausdrück- lich auf, keinem meiner Rathſchläge blindlings zu folgen. Ich wäre ein ſchlechter Pädagog, wenn ich nicht auch hier und da darauf ausginge, Eure Aufmerkſamkeit, Euren Scharfſinn und

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/46>, abgerufen am 23.11.2024.