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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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VIII. Geselligkeitstrieb -- Einsiedler.
thum, Gemälde, Sculpturen, Bauwerke, ernstes Studium,
Zerstreuungen und Genüsse, nichts vermag auf die Dauer die
Sehnsucht nach menschlicher Ansprache fern zu halten. Vor-
handen ist dieser tiefgewurzelte, mächtige Trieb bei Jedem;
theils verhindern aber unsre großstädtischen Gewohnheiten
und Vorurtheile, ihm auswärts Befriedigung zu gönnen,
theils suchen wir uns oberflächlich mit ihm abzufinden (z. B.
durch aus der Heimat mitgenommene Begleiter, welche neue
Anknüpfungen nur erschweren), anstatt den Drang, wie der
Schiffer den Wind, zu benutzen, um uns dem Hauptziele
zutreiben zu lassen.

-- Mancher sucht doch aber, gab ich zu bedenken, eben
die Einsamkeit der Wälder und Berge auf, weil er "gar keine
Menschengesichter mehr sehen will" -- --

-- Täuscht sich jedoch, wenn er seinen Geselligkeitstrieb
erstorben glaubt. Dieser Schelm von Geselligkeitstrieb stellt
sich zuweilen, als ob er den freiwilligen Hungertod gewählt
habe. Um ihn zu heilen und für seinen Trotz zu strafen,
lasse man ihm nur eine Zeit lang seinen Willen, völlige Ein-
samkeit, das wird ihn schon zur Besinnung bringen. --
Wäre ich indeß auch eingefleischter Einsiedler, so verböte mir
doch der touristische Corpsgeist, mich abzuschließen. Ich muß
mir sagen, ein gütiges Geschick hat mich mit allem zur Reise
Nöthigen ausgestattet, ich bin nicht zu alt, noch zu gebrech-
lich, habe Zeit, Mittel und Lust dazu, keinerlei Verpflichtungen
hindern mich, meinen Wohnort längere Zeit zu verlassen: --
soll ich alle diese schönen Geschenke hinnehmen, ohne nach
einer Bethätigung meines Dankgefühls zu suchen? Bin ich
als Tourist entbunden von der allgemeinen Pflicht, nicht blos
meinem lieben Ich, sondern auch ein wenig Anderen zu leben?
Als Künstler, als Archäolog, als Naturforscher dürfte ich ein-
wenden, ich will mich nicht abziehen lassen von meinen Be-
strebungen; als Patient höheren Grades hätte ich die Aus-
rede, ich bin zu krank für die Geselligkeit; womit soll ich mich
aber als Tourist entschuldigen? Und wenn nun gar jene

VIII. Geſelligkeitstrieb — Einſiedler.
thum, Gemälde, Sculpturen, Bauwerke, ernſtes Studium,
Zerſtreuungen und Genüſſe, nichts vermag auf die Dauer die
Sehnſucht nach menſchlicher Anſprache fern zu halten. Vor-
handen iſt dieſer tiefgewurzelte, mächtige Trieb bei Jedem;
theils verhindern aber unſre großſtädtiſchen Gewohnheiten
und Vorurtheile, ihm auswärts Befriedigung zu gönnen,
theils ſuchen wir uns oberflächlich mit ihm abzufinden (z. B.
durch aus der Heimat mitgenommene Begleiter, welche neue
Anknüpfungen nur erſchweren), anſtatt den Drang, wie der
Schiffer den Wind, zu benutzen, um uns dem Hauptziele
zutreiben zu laſſen.

— Mancher ſucht doch aber, gab ich zu bedenken, eben
die Einſamkeit der Wälder und Berge auf, weil er „gar keine
Menſchengeſichter mehr ſehen will“ — —

— Täuſcht ſich jedoch, wenn er ſeinen Geſelligkeitstrieb
erſtorben glaubt. Dieſer Schelm von Geſelligkeitstrieb ſtellt
ſich zuweilen, als ob er den freiwilligen Hungertod gewählt
habe. Um ihn zu heilen und für ſeinen Trotz zu ſtrafen,
laſſe man ihm nur eine Zeit lang ſeinen Willen, völlige Ein-
ſamkeit, das wird ihn ſchon zur Beſinnung bringen. —
Wäre ich indeß auch eingefleiſchter Einſiedler, ſo verböte mir
doch der touriſtiſche Corpsgeiſt, mich abzuſchließen. Ich muß
mir ſagen, ein gütiges Geſchick hat mich mit allem zur Reiſe
Nöthigen ausgeſtattet, ich bin nicht zu alt, noch zu gebrech-
lich, habe Zeit, Mittel und Luſt dazu, keinerlei Verpflichtungen
hindern mich, meinen Wohnort längere Zeit zu verlaſſen: —
ſoll ich alle dieſe ſchönen Geſchenke hinnehmen, ohne nach
einer Bethätigung meines Dankgefühls zu ſuchen? Bin ich
als Touriſt entbunden von der allgemeinen Pflicht, nicht blos
meinem lieben Ich, ſondern auch ein wenig Anderen zu leben?
Als Künſtler, als Archäolog, als Naturforſcher dürfte ich ein-
wenden, ich will mich nicht abziehen laſſen von meinen Be-
ſtrebungen; als Patient höheren Grades hätte ich die Aus-
rede, ich bin zu krank für die Geſelligkeit; womit ſoll ich mich
aber als Touriſt entſchuldigen? Und wenn nun gar jene

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[265/0279] VIII. Geſelligkeitstrieb — Einſiedler. thum, Gemälde, Sculpturen, Bauwerke, ernſtes Studium, Zerſtreuungen und Genüſſe, nichts vermag auf die Dauer die Sehnſucht nach menſchlicher Anſprache fern zu halten. Vor- handen iſt dieſer tiefgewurzelte, mächtige Trieb bei Jedem; theils verhindern aber unſre großſtädtiſchen Gewohnheiten und Vorurtheile, ihm auswärts Befriedigung zu gönnen, theils ſuchen wir uns oberflächlich mit ihm abzufinden (z. B. durch aus der Heimat mitgenommene Begleiter, welche neue Anknüpfungen nur erſchweren), anſtatt den Drang, wie der Schiffer den Wind, zu benutzen, um uns dem Hauptziele zutreiben zu laſſen. — Mancher ſucht doch aber, gab ich zu bedenken, eben die Einſamkeit der Wälder und Berge auf, weil er „gar keine Menſchengeſichter mehr ſehen will“ — — — Täuſcht ſich jedoch, wenn er ſeinen Geſelligkeitstrieb erſtorben glaubt. Dieſer Schelm von Geſelligkeitstrieb ſtellt ſich zuweilen, als ob er den freiwilligen Hungertod gewählt habe. Um ihn zu heilen und für ſeinen Trotz zu ſtrafen, laſſe man ihm nur eine Zeit lang ſeinen Willen, völlige Ein- ſamkeit, das wird ihn ſchon zur Beſinnung bringen. — Wäre ich indeß auch eingefleiſchter Einſiedler, ſo verböte mir doch der touriſtiſche Corpsgeiſt, mich abzuſchließen. Ich muß mir ſagen, ein gütiges Geſchick hat mich mit allem zur Reiſe Nöthigen ausgeſtattet, ich bin nicht zu alt, noch zu gebrech- lich, habe Zeit, Mittel und Luſt dazu, keinerlei Verpflichtungen hindern mich, meinen Wohnort längere Zeit zu verlaſſen: — ſoll ich alle dieſe ſchönen Geſchenke hinnehmen, ohne nach einer Bethätigung meines Dankgefühls zu ſuchen? Bin ich als Touriſt entbunden von der allgemeinen Pflicht, nicht blos meinem lieben Ich, ſondern auch ein wenig Anderen zu leben? Als Künſtler, als Archäolog, als Naturforſcher dürfte ich ein- wenden, ich will mich nicht abziehen laſſen von meinen Be- ſtrebungen; als Patient höheren Grades hätte ich die Aus- rede, ich bin zu krank für die Geſelligkeit; womit ſoll ich mich aber als Touriſt entſchuldigen? Und wenn nun gar jene

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/279>, abgerufen am 24.11.2024.