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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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VIII. Reisefieber -- neue Art zu reisen.
gellenden Pfiffe der Locomotiven, auch das Schnurren der
Räder, das Trappen der Pferde und sanfte Klappern des
Wagens hörte sich besser an, als das jetzige betäubende Ge-
rassel der Waggonfenster und das ewige Tftftftftftf der Ma-
schine, welches als basso ostinato jedes Gespräch verfolgt und
bald müdehetzt. Die langsame Bewegung und das lange
Beisammensein waren auch geeigneter, Meinungsaustausch
und nähere Bekanntschaften zu vermitteln, während man jetzt
in den Coupes kaum Notiz von einander nimmt: jede
Station kann Nachbarn auseinanderreißen und neue zu-
sammenführen. Auch ist nicht zu verkennen, daß das soge-
nannte "Reisefieber" -- jene Unruhe, die unterwegs Manche
befällt, sie fort und fort nach der Uhr zu sehen treibt, ihnen
Nachts den Schlaf, am Tage klares, gesammeltes Denken
stört -- seitdem es Eisenbahnen gibt, einen hitzigeren, conta-
giöseren Charakter angenommen hat. Alles das räume ich
willig ein, behaupte aber, die Poesie der Reise hat nichts
verloren und ihre Ergiebigkeit wesentlich gewonnen.
Niemanden ist es verwehrt, den Schienenweg nur als Mittel
zu betrachten, um sich rasch dahin schleudern zu lassen, wo
die eigentliche Reise erst beginnen soll; diese selbst können
wir unzweifelhaft mit weniger Aufwand an Zeit, Mühe und
Geld ihren Zwecken und unsren geistigen, poetischen, gemüth-
lichen Ansprüchen gemäß gestalten. Sie ist ferner nicht mehr
Vorrecht der Reichen. Wir können öfter und brauchen nicht
mehr so lange zu reisen, können ohne große Opfer, sobald
sich "Sättigung" einstellt, zurückkehren und die Fortsetzung
verschieben, bis die empfangenen Eindrücke innerlich verar-
beitet und wir für neue wieder frisch geworden sind, können
Versäumtes leicht nachholen, und unsre Geduld hat minder
harte Prüfungen zu bestehen. Während ein junger Mann
ehemals, gleich nachdem er seine wissenschaftlichen Studien
oder die kaufmännische Vorbereitungszeit zurückgelegt, auf
halbe und ganze Jahre in die Welt ging, dann heimkehrte,
ein Amt übernahm oder ein Geschäft eröffnete, heirathete und

VIII. Reiſefieber — neue Art zu reiſen.
gellenden Pfiffe der Locomotiven, auch das Schnurren der
Räder, das Trappen der Pferde und ſanfte Klappern des
Wagens hörte ſich beſſer an, als das jetzige betäubende Ge-
raſſel der Waggonfenſter und das ewige Tftftftftftf der Ma-
ſchine, welches als basso ostinato jedes Geſpräch verfolgt und
bald müdehetzt. Die langſame Bewegung und das lange
Beiſammenſein waren auch geeigneter, Meinungsaustauſch
und nähere Bekanntſchaften zu vermitteln, während man jetzt
in den Coupés kaum Notiz von einander nimmt: jede
Station kann Nachbarn auseinanderreißen und neue zu-
ſammenführen. Auch iſt nicht zu verkennen, daß das ſoge-
nannte „Reiſefieber“ — jene Unruhe, die unterwegs Manche
befällt, ſie fort und fort nach der Uhr zu ſehen treibt, ihnen
Nachts den Schlaf, am Tage klares, geſammeltes Denken
ſtört — ſeitdem es Eiſenbahnen gibt, einen hitzigeren, conta-
giöſeren Charakter angenommen hat. Alles das räume ich
willig ein, behaupte aber, die Poeſie der Reiſe hat nichts
verloren und ihre Ergiebigkeit weſentlich gewonnen.
Niemanden iſt es verwehrt, den Schienenweg nur als Mittel
zu betrachten, um ſich raſch dahin ſchleudern zu laſſen, wo
die eigentliche Reiſe erſt beginnen ſoll; dieſe ſelbſt können
wir unzweifelhaft mit weniger Aufwand an Zeit, Mühe und
Geld ihren Zwecken und unſren geiſtigen, poetiſchen, gemüth-
lichen Anſprüchen gemäß geſtalten. Sie iſt ferner nicht mehr
Vorrecht der Reichen. Wir können öfter und brauchen nicht
mehr ſo lange zu reiſen, können ohne große Opfer, ſobald
ſich „Sättigung“ einſtellt, zurückkehren und die Fortſetzung
verſchieben, bis die empfangenen Eindrücke innerlich verar-
beitet und wir für neue wieder friſch geworden ſind, können
Verſäumtes leicht nachholen, und unſre Geduld hat minder
harte Prüfungen zu beſtehen. Während ein junger Mann
ehemals, gleich nachdem er ſeine wiſſenſchaftlichen Studien
oder die kaufmänniſche Vorbereitungszeit zurückgelegt, auf
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[244/0258] VIII. Reiſefieber — neue Art zu reiſen. gellenden Pfiffe der Locomotiven, auch das Schnurren der Räder, das Trappen der Pferde und ſanfte Klappern des Wagens hörte ſich beſſer an, als das jetzige betäubende Ge- raſſel der Waggonfenſter und das ewige Tftftftftftf der Ma- ſchine, welches als basso ostinato jedes Geſpräch verfolgt und bald müdehetzt. Die langſame Bewegung und das lange Beiſammenſein waren auch geeigneter, Meinungsaustauſch und nähere Bekanntſchaften zu vermitteln, während man jetzt in den Coupés kaum Notiz von einander nimmt: jede Station kann Nachbarn auseinanderreißen und neue zu- ſammenführen. Auch iſt nicht zu verkennen, daß das ſoge- nannte „Reiſefieber“ — jene Unruhe, die unterwegs Manche befällt, ſie fort und fort nach der Uhr zu ſehen treibt, ihnen Nachts den Schlaf, am Tage klares, geſammeltes Denken ſtört — ſeitdem es Eiſenbahnen gibt, einen hitzigeren, conta- giöſeren Charakter angenommen hat. Alles das räume ich willig ein, behaupte aber, die Poeſie der Reiſe hat nichts verloren und ihre Ergiebigkeit weſentlich gewonnen. Niemanden iſt es verwehrt, den Schienenweg nur als Mittel zu betrachten, um ſich raſch dahin ſchleudern zu laſſen, wo die eigentliche Reiſe erſt beginnen ſoll; dieſe ſelbſt können wir unzweifelhaft mit weniger Aufwand an Zeit, Mühe und Geld ihren Zwecken und unſren geiſtigen, poetiſchen, gemüth- lichen Anſprüchen gemäß geſtalten. Sie iſt ferner nicht mehr Vorrecht der Reichen. Wir können öfter und brauchen nicht mehr ſo lange zu reiſen, können ohne große Opfer, ſobald ſich „Sättigung“ einſtellt, zurückkehren und die Fortſetzung verſchieben, bis die empfangenen Eindrücke innerlich verar- beitet und wir für neue wieder friſch geworden ſind, können Verſäumtes leicht nachholen, und unſre Geduld hat minder harte Prüfungen zu beſtehen. Während ein junger Mann ehemals, gleich nachdem er ſeine wiſſenſchaftlichen Studien oder die kaufmänniſche Vorbereitungszeit zurückgelegt, auf halbe und ganze Jahre in die Welt ging, dann heimkehrte, ein Amt übernahm oder ein Geſchäft eröffnete, heirathete und

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/258>, abgerufen am 22.05.2024.