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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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VII. Moralische Erzählungen vom Lohn der Tugend.
fallen lassen, als in Badeorten, in denen man sich so häufig
wieder begegnet, hier gilt es mithin, noch vorsichtiger in der
Annäherung zu sein, immerhin ist jedoch, wenn einmal
Zufall oder Absicht eine solche eingeleitet hat, der Bruch nicht
zu übereilen. Früher hatte ich diese üble Gewohnheit und
verfuhr oft recht unsanft, den Einflüsterungen der Ungeduld
nachgebend, welche Mutter der Rücksichtslosigkeit und Tante
der Grobheit ist, bin aber durch eine Reihe von Erfahrungen
belehrt davon zurückgekommen. Die für mich unliebsamen,
nur für Andere lustigen dieser Erlebnisse verschweige ich,
blos zwei kleine moralische Erzählungen, wie Tugend belohnt
wird, mögen hier stehen.

Eine Postfahrt aus Sachsen nach Carlsbad hatte mich
mit einem schwarzgalligen alten Herrn zusammengeführt.
Seitdem jeden Morgen vor fünf Uhr traf ich dort mit ihm
am Sprudel zusammen, wo bekanntlich um diese Zeit der
engere Ausschuß der europäischen Hypochonder tagt. Jeder
steht, den Rücken nach der Versammlung gekehrt, bläst in
den Becher und wirft unholde Blicke rückwärts über die
Achsel. Ich war der Einzige, dem mein Wagengefährte an-
vertrauen konnte, wieviel Stunden er nicht geschlafen, wie-
viel Becher Mühlbrunn er hinterher trinken werde, was
ihm gestern Doctor H. sonst noch verordnet hatte und wie
schlecht wieder die Suppe im Nn'schen Hofe gewesen sei.
Schon überlegte ich, wie es wohl anzustellen sei, um los-
zukommen, als sich plötzlich die Scene ändert: am Arme des
verdrießlichen Alten erscheint eines Morgens ein wunderbar
schönes Mädchen, seine Tochter. Nun, dachte ich, es gibt
ja garstige, stachelige Cacteen, die prachtvolle Blüten treiben.
Der Cactus verlor aber auch seine Stacheln, wurde ein um-
gänglicher, unterhaltender Mann, wenigstens war das die
Ansicht des fröhlichen, belebten Kreises, der sich schon nach
drei Tagen um Papa, Tochter und mich gebildet hatte, soviel
ich weiß, des einzigen derartigen, den damals Carlsbad besaß.
Sogar mehre der Fünfuhrstammgäste des Sprudels hatten

VII. Moraliſche Erzählungen vom Lohn der Tugend.
fallen laſſen, als in Badeorten, in denen man ſich ſo häufig
wieder begegnet, hier gilt es mithin, noch vorſichtiger in der
Annäherung zu ſein, immerhin iſt jedoch, wenn einmal
Zufall oder Abſicht eine ſolche eingeleitet hat, der Bruch nicht
zu übereilen. Früher hatte ich dieſe üble Gewohnheit und
verfuhr oft recht unſanft, den Einflüſterungen der Ungeduld
nachgebend, welche Mutter der Rückſichtsloſigkeit und Tante
der Grobheit iſt, bin aber durch eine Reihe von Erfahrungen
belehrt davon zurückgekommen. Die für mich unliebſamen,
nur für Andere luſtigen dieſer Erlebniſſe verſchweige ich,
blos zwei kleine moraliſche Erzählungen, wie Tugend belohnt
wird, mögen hier ſtehen.

Eine Poſtfahrt aus Sachſen nach Carlsbad hatte mich
mit einem ſchwarzgalligen alten Herrn zuſammengeführt.
Seitdem jeden Morgen vor fünf Uhr traf ich dort mit ihm
am Sprudel zuſammen, wo bekanntlich um dieſe Zeit der
engere Ausſchuß der europäiſchen Hypochonder tagt. Jeder
ſteht, den Rücken nach der Verſammlung gekehrt, bläſt in
den Becher und wirft unholde Blicke rückwärts über die
Achſel. Ich war der Einzige, dem mein Wagengefährte an-
vertrauen konnte, wieviel Stunden er nicht geſchlafen, wie-
viel Becher Mühlbrunn er hinterher trinken werde, was
ihm geſtern Doctor H. ſonſt noch verordnet hatte und wie
ſchlecht wieder die Suppe im Nn’ſchen Hofe geweſen ſei.
Schon überlegte ich, wie es wohl anzuſtellen ſei, um los-
zukommen, als ſich plötzlich die Scene ändert: am Arme des
verdrießlichen Alten erſcheint eines Morgens ein wunderbar
ſchönes Mädchen, ſeine Tochter. Nun, dachte ich, es gibt
ja garſtige, ſtachelige Cacteen, die prachtvolle Blüten treiben.
Der Cactus verlor aber auch ſeine Stacheln, wurde ein um-
gänglicher, unterhaltender Mann, wenigſtens war das die
Anſicht des fröhlichen, belebten Kreiſes, der ſich ſchon nach
drei Tagen um Papa, Tochter und mich gebildet hatte, ſoviel
ich weiß, des einzigen derartigen, den damals Carlsbad beſaß.
Sogar mehre der Fünfuhrſtammgäſte des Sprudels hatten

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[222/0236] VII. Moraliſche Erzählungen vom Lohn der Tugend. fallen laſſen, als in Badeorten, in denen man ſich ſo häufig wieder begegnet, hier gilt es mithin, noch vorſichtiger in der Annäherung zu ſein, immerhin iſt jedoch, wenn einmal Zufall oder Abſicht eine ſolche eingeleitet hat, der Bruch nicht zu übereilen. Früher hatte ich dieſe üble Gewohnheit und verfuhr oft recht unſanft, den Einflüſterungen der Ungeduld nachgebend, welche Mutter der Rückſichtsloſigkeit und Tante der Grobheit iſt, bin aber durch eine Reihe von Erfahrungen belehrt davon zurückgekommen. Die für mich unliebſamen, nur für Andere luſtigen dieſer Erlebniſſe verſchweige ich, blos zwei kleine moraliſche Erzählungen, wie Tugend belohnt wird, mögen hier ſtehen. Eine Poſtfahrt aus Sachſen nach Carlsbad hatte mich mit einem ſchwarzgalligen alten Herrn zuſammengeführt. Seitdem jeden Morgen vor fünf Uhr traf ich dort mit ihm am Sprudel zuſammen, wo bekanntlich um dieſe Zeit der engere Ausſchuß der europäiſchen Hypochonder tagt. Jeder ſteht, den Rücken nach der Verſammlung gekehrt, bläſt in den Becher und wirft unholde Blicke rückwärts über die Achſel. Ich war der Einzige, dem mein Wagengefährte an- vertrauen konnte, wieviel Stunden er nicht geſchlafen, wie- viel Becher Mühlbrunn er hinterher trinken werde, was ihm geſtern Doctor H. ſonſt noch verordnet hatte und wie ſchlecht wieder die Suppe im Nn’ſchen Hofe geweſen ſei. Schon überlegte ich, wie es wohl anzuſtellen ſei, um los- zukommen, als ſich plötzlich die Scene ändert: am Arme des verdrießlichen Alten erſcheint eines Morgens ein wunderbar ſchönes Mädchen, ſeine Tochter. Nun, dachte ich, es gibt ja garſtige, ſtachelige Cacteen, die prachtvolle Blüten treiben. Der Cactus verlor aber auch ſeine Stacheln, wurde ein um- gänglicher, unterhaltender Mann, wenigſtens war das die Anſicht des fröhlichen, belebten Kreiſes, der ſich ſchon nach drei Tagen um Papa, Tochter und mich gebildet hatte, ſoviel ich weiß, des einzigen derartigen, den damals Carlsbad beſaß. Sogar mehre der Fünfuhrſtammgäſte des Sprudels hatten

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/236>, abgerufen am 24.11.2024.