VI. Härteste Nothzustände -- Abschätzung der Gäste.
saftiges Fleisch von zähem, trocknem zu unterscheiden wisse, ferner andeutete, ich gedächte wiederzukommen, und eine theurere Weinsorte bestellte, eine Artigkeit, die jedes nicht ganz ver- härtete Wirthsherz rührt. Ich erhielt dann das Beste, was zu haben war, wenigstens unter mehren Uebeln das kleinste.
Wirthstische und Häuser verschiedenster Beschaffenheit hätten wir nun fleißig besucht und geprüft, sind aber doch noch nicht im Reinen mit ihnen. "Wir sind noch nicht aus- einander, sprach der Hahn zum Regenwurm, und da fraß er die andre Hälfte." Anders lägen die Dinge, wenn wir Gäste die Examinaten wären: da gälte es, rasch sein. Setzen wir z. B. den Fall, der vierzehnsitzige Omnibus des Grand Hotel de la Sangsue d'Or oder "Zur Stadt Marocco" käme eben gefüllt vom Bahnhof, das Alarmsignal der Glocke dröhnte durch's Haus und von allen Seiten stürzte man herbei, die Aussteigenden zu empfangen. Binnen zwei Minuten müßte ihre vorläufige Abschätzung vollzogen sein, denn ihre Be- quartierung hängt davon ab, müßte entschieden sein, wer von ihnen einen Salon im ersten Stock und wer ein einfenstriges Hofzimmer im obersten verdient, beziehungsweise vertragen kann. Bis zur Lunge dringt die Diagnose freilich nicht, wohl aber weiß sie Vermögen, Rang, Ansprüche des Einzelnen zu errathen, den Grad der Feinheit des Hemds, die Haltung der Fingernägel zu auscultiren und daraus Schlüsse zu ziehen. Nach derlei tiefversteckten Signaturen vermag sie die Zimmernummer für jeden Ankömmling zu berechnen, alles im Handumdrehen, was indessen nicht ausschließt, daß die erste Gelegenheit ergriffen wird, die Probe auf das Exempel zu machen, durch angeknüpftes Gespräch, Untersuchung der ausgezogenen Stiefel oder sonstwie. Uns Touristen eilt es hier nicht mit der Prüfung unsrer Obdachgeber, gehen wir deshalb hübsch gründlich zu Werke.
Inmitten aller Bemerkungen über Wirthe und Dienst- personal wollen wir doch aber erst einmal der Thatsache ge- denken, daß auch bei uns Gästen nicht Alles so ist, wie es
VI. Härteſte Nothzuſtände — Abſchätzung der Gäſte.
ſaftiges Fleiſch von zähem, trocknem zu unterſcheiden wiſſe, ferner andeutete, ich gedächte wiederzukommen, und eine theurere Weinſorte beſtellte, eine Artigkeit, die jedes nicht ganz ver- härtete Wirthsherz rührt. Ich erhielt dann das Beſte, was zu haben war, wenigſtens unter mehren Uebeln das kleinſte.
Wirthstiſche und Häuſer verſchiedenſter Beſchaffenheit hätten wir nun fleißig beſucht und geprüft, ſind aber doch noch nicht im Reinen mit ihnen. „Wir ſind noch nicht aus- einander, ſprach der Hahn zum Regenwurm, und da fraß er die andre Hälfte.“ Anders lägen die Dinge, wenn wir Gäſte die Examinaten wären: da gälte es, raſch ſein. Setzen wir z. B. den Fall, der vierzehnſitzige Omnibus des Grand Hôtel de la Sangsue d’Or oder „Zur Stadt Marocco“ käme eben gefüllt vom Bahnhof, das Alarmſignal der Glocke dröhnte durch’s Haus und von allen Seiten ſtürzte man herbei, die Ausſteigenden zu empfangen. Binnen zwei Minuten müßte ihre vorläufige Abſchätzung vollzogen ſein, denn ihre Be- quartierung hängt davon ab, müßte entſchieden ſein, wer von ihnen einen Salon im erſten Stock und wer ein einfenſtriges Hofzimmer im oberſten verdient, beziehungsweiſe vertragen kann. Bis zur Lunge dringt die Diagnoſe freilich nicht, wohl aber weiß ſie Vermögen, Rang, Anſprüche des Einzelnen zu errathen, den Grad der Feinheit des Hemds, die Haltung der Fingernägel zu auscultiren und daraus Schlüſſe zu ziehen. Nach derlei tiefverſteckten Signaturen vermag ſie die Zimmernummer für jeden Ankömmling zu berechnen, alles im Handumdrehen, was indeſſen nicht ausſchließt, daß die erſte Gelegenheit ergriffen wird, die Probe auf das Exempel zu machen, durch angeknüpftes Geſpräch, Unterſuchung der ausgezogenen Stiefel oder ſonſtwie. Uns Touriſten eilt es hier nicht mit der Prüfung unſrer Obdachgeber, gehen wir deshalb hübſch gründlich zu Werke.
Inmitten aller Bemerkungen über Wirthe und Dienſt- perſonal wollen wir doch aber erſt einmal der Thatſache ge- denken, daß auch bei uns Gäſten nicht Alles ſo iſt, wie es
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VI. Härteſte Nothzuſtände — Abſchätzung der Gäſte.
ſaftiges Fleiſch von zähem, trocknem zu unterſcheiden wiſſe,
ferner andeutete, ich gedächte wiederzukommen, und eine theurere
Weinſorte beſtellte, eine Artigkeit, die jedes nicht ganz ver-
härtete Wirthsherz rührt. Ich erhielt dann das Beſte, was
zu haben war, wenigſtens unter mehren Uebeln das kleinſte.
Wirthstiſche und Häuſer verſchiedenſter Beſchaffenheit
hätten wir nun fleißig beſucht und geprüft, ſind aber doch
noch nicht im Reinen mit ihnen. „Wir ſind noch nicht aus-
einander, ſprach der Hahn zum Regenwurm, und da fraß er
die andre Hälfte.“ Anders lägen die Dinge, wenn wir Gäſte
die Examinaten wären: da gälte es, raſch ſein. Setzen wir
z. B. den Fall, der vierzehnſitzige Omnibus des Grand Hôtel
de la Sangsue d’Or oder „Zur Stadt Marocco“ käme eben
gefüllt vom Bahnhof, das Alarmſignal der Glocke dröhnte
durch’s Haus und von allen Seiten ſtürzte man herbei, die
Ausſteigenden zu empfangen. Binnen zwei Minuten müßte
ihre vorläufige Abſchätzung vollzogen ſein, denn ihre Be-
quartierung hängt davon ab, müßte entſchieden ſein, wer von
ihnen einen Salon im erſten Stock und wer ein einfenſtriges
Hofzimmer im oberſten verdient, beziehungsweiſe vertragen
kann. Bis zur Lunge dringt die Diagnoſe freilich nicht, wohl
aber weiß ſie Vermögen, Rang, Anſprüche des Einzelnen zu
errathen, den Grad der Feinheit des Hemds, die Haltung
der Fingernägel zu auscultiren und daraus Schlüſſe zu
ziehen. Nach derlei tiefverſteckten Signaturen vermag ſie die
Zimmernummer für jeden Ankömmling zu berechnen, alles
im Handumdrehen, was indeſſen nicht ausſchließt, daß die
erſte Gelegenheit ergriffen wird, die Probe auf das Exempel
zu machen, durch angeknüpftes Geſpräch, Unterſuchung der
ausgezogenen Stiefel oder ſonſtwie. Uns Touriſten eilt es
hier nicht mit der Prüfung unſrer Obdachgeber, gehen wir
deshalb hübſch gründlich zu Werke.
Inmitten aller Bemerkungen über Wirthe und Dienſt-
perſonal wollen wir doch aber erſt einmal der Thatſache ge-
denken, daß auch bei uns Gäſten nicht Alles ſo iſt, wie es
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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/195>, abgerufen am 16.02.2025.
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