Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.V. Zerstreuungen, Zeitvertreibe, Belustigungen -- Rentierleben. möchte, ist die: Wähne nicht, daß die Dinge, welche die we-nigen freien Stunden Deines bisherigen arbeitsamen Lebens versüßten, diese angenehme Süßigkeit nun auch behalten, wenn Du sie zum Tagewerk machst, denn das wäre dieselbe Anschauung, welche naschhafte Kinder beherrscht, wenn sie Kuchenbäcker beneiden und dereinst werden möchten. Im Gegentheile sei überzeugt, daß von dem Augenblicke an, wo Du zum ersten Male die Bemerkung machst, daß diese Zer- streuungen ihren Reiz zu verlieren anfangen, das Gefühl der Verlassenheit über Dich kommen wird, wie das Gefühl des Schwindels den Bergsteiger ergreift, der sich an Gesträuch hält, dessen Wurzeln unter seiner Hand sich lockern. Beide Empfindungen haben in der That Verwandtes. In beiden ist es der leere Raum, der horror vacui, der Mangel an Stütze, die Verrückung des Schwerpunkts, welcher die Ein- bildungskraft ängstigt und umtreibt. Geplauder, Spazier- gänge, Kartenspiel, Musiknäscherei, Romane, Zeitschriften vertreiben wohl Stunden, aber wehe Dir, wenn Du meinst, daß auch Monate und Jahre sich vertreiben lassen, blos durch Vermehrung der Treiber! Du würdest bald inne werden, daß Du durch Mißbrauch dieser Hilfsmittel ihre Hilfe ganz verscherzt hast. Leichte Unterhaltungs- und humoristische Lectüre ist es besonders, die dann am raschesten ihren Reiz verliert. Es handelt sich hier um das Stück Lebensklugheit, das seit Salomo, Aesop und Sokrates alle Weisen des Morgen- und Abendlandes gepredigt haben, mithin bei der Mehrzahl der Zeitgenossen, die keine "alten Geschichten" hören mag noch gelten läßt, verachtet wird. Man glaubt, ein Reizmittel zum Nahrungsmittel, Würze zur Kost machen zu können. Daher zum Theil die athemlose Jagd auf neue Eindrücke und An- regungen und der chronische Gähnkrampf, an dem unsre Zeit leidet. Solltet Ihr, geliebte Schüler, einmal in den Fall kom- V. Zerſtreuungen, Zeitvertreibe, Beluſtigungen — Rentierleben. möchte, iſt die: Wähne nicht, daß die Dinge, welche die we-nigen freien Stunden Deines bisherigen arbeitſamen Lebens verſüßten, dieſe angenehme Süßigkeit nun auch behalten, wenn Du ſie zum Tagewerk machſt, denn das wäre dieſelbe Anſchauung, welche naſchhafte Kinder beherrſcht, wenn ſie Kuchenbäcker beneiden und dereinſt werden möchten. Im Gegentheile ſei überzeugt, daß von dem Augenblicke an, wo Du zum erſten Male die Bemerkung machſt, daß dieſe Zer- ſtreuungen ihren Reiz zu verlieren anfangen, das Gefühl der Verlaſſenheit über Dich kommen wird, wie das Gefühl des Schwindels den Bergſteiger ergreift, der ſich an Geſträuch hält, deſſen Wurzeln unter ſeiner Hand ſich lockern. Beide Empfindungen haben in der That Verwandtes. In beiden iſt es der leere Raum, der horror vacui, der Mangel an Stütze, die Verrückung des Schwerpunkts, welcher die Ein- bildungskraft ängſtigt und umtreibt. Geplauder, Spazier- gänge, Kartenſpiel, Muſiknäſcherei, Romane, Zeitſchriften vertreiben wohl Stunden, aber wehe Dir, wenn Du meinſt, daß auch Monate und Jahre ſich vertreiben laſſen, blos durch Vermehrung der Treiber! Du würdeſt bald inne werden, daß Du durch Mißbrauch dieſer Hilfsmittel ihre Hilfe ganz verſcherzt haſt. Leichte Unterhaltungs- und humoriſtiſche Lectüre iſt es beſonders, die dann am raſcheſten ihren Reiz verliert. Es handelt ſich hier um das Stück Lebensklugheit, das ſeit Salomo, Aeſop und Sokrates alle Weiſen des Morgen- und Abendlandes gepredigt haben, mithin bei der Mehrzahl der Zeitgenoſſen, die keine „alten Geſchichten“ hören mag noch gelten läßt, verachtet wird. Man glaubt, ein Reizmittel zum Nahrungsmittel, Würze zur Koſt machen zu können. Daher zum Theil die athemloſe Jagd auf neue Eindrücke und An- regungen und der chroniſche Gähnkrampf, an dem unſre Zeit leidet. Solltet Ihr, geliebte Schüler, einmal in den Fall kom- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0171" n="157"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> Zerſtreuungen, Zeitvertreibe, Beluſtigungen — Rentierleben.</fw><lb/> möchte, iſt die: Wähne nicht, daß die Dinge, welche die we-<lb/> nigen freien Stunden Deines bisherigen arbeitſamen Lebens<lb/> verſüßten, dieſe angenehme Süßigkeit nun auch behalten,<lb/> wenn Du ſie zum Tagewerk machſt, denn das wäre dieſelbe<lb/> Anſchauung, welche naſchhafte Kinder beherrſcht, wenn ſie<lb/> Kuchenbäcker beneiden und dereinſt werden möchten. 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V. Zerſtreuungen, Zeitvertreibe, Beluſtigungen — Rentierleben.
möchte, iſt die: Wähne nicht, daß die Dinge, welche die we-
nigen freien Stunden Deines bisherigen arbeitſamen Lebens
verſüßten, dieſe angenehme Süßigkeit nun auch behalten,
wenn Du ſie zum Tagewerk machſt, denn das wäre dieſelbe
Anſchauung, welche naſchhafte Kinder beherrſcht, wenn ſie
Kuchenbäcker beneiden und dereinſt werden möchten. Im
Gegentheile ſei überzeugt, daß von dem Augenblicke an, wo
Du zum erſten Male die Bemerkung machſt, daß dieſe Zer-
ſtreuungen ihren Reiz zu verlieren anfangen, das Gefühl der
Verlaſſenheit über Dich kommen wird, wie das Gefühl des
Schwindels den Bergſteiger ergreift, der ſich an Geſträuch
hält, deſſen Wurzeln unter ſeiner Hand ſich lockern. Beide
Empfindungen haben in der That Verwandtes. In beiden
iſt es der leere Raum, der horror vacui, der Mangel an
Stütze, die Verrückung des Schwerpunkts, welcher die Ein-
bildungskraft ängſtigt und umtreibt. Geplauder, Spazier-
gänge, Kartenſpiel, Muſiknäſcherei, Romane, Zeitſchriften
vertreiben wohl Stunden, aber wehe Dir, wenn Du meinſt,
daß auch Monate und Jahre ſich vertreiben laſſen, blos durch
Vermehrung der Treiber! Du würdeſt bald inne werden,
daß Du durch Mißbrauch dieſer Hilfsmittel ihre Hilfe ganz
verſcherzt haſt. Leichte Unterhaltungs- und humoriſtiſche Lectüre
iſt es beſonders, die dann am raſcheſten ihren Reiz verliert.
Es handelt ſich hier um das Stück Lebensklugheit, das ſeit
Salomo, Aeſop und Sokrates alle Weiſen des Morgen- und
Abendlandes gepredigt haben, mithin bei der Mehrzahl der
Zeitgenoſſen, die keine „alten Geſchichten“ hören mag noch
gelten läßt, verachtet wird. Man glaubt, ein Reizmittel zum
Nahrungsmittel, Würze zur Koſt machen zu können. Daher
zum Theil die athemloſe Jagd auf neue Eindrücke und An-
regungen und der chroniſche Gähnkrampf, an dem unſre Zeit
leidet.
Solltet Ihr, geliebte Schüler, einmal in den Fall kom-
men — Gott bewahre Euch davor, denn der Weg, der dann
Euer harrte, iſt eine mißliche Gletſcherwanderung, voller
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