Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

Bild:
<< vorherige Seite
V. Segen der Arbeit -- Lectionen im Müßiggang.

So halte ich denn an der Meinung fest, die Arbeit,
so lange sie innerhalb gewisser Schranken bleibt, ist unsre
Freundin und Wohlthäterin. Wohlthäter sind aber nie zu-
gleich Schmeichler, sondern ernste, strenge Lehrer, deshalb
wenig geliebt, viel verkannt, geschmäht, verläumdet. Auch
die Arbeit hat dieses Schicksal. Hören wir die Curgäste, sie
werden fast alle behaupten, die meisten auch wirklich glauben,
daß es allein oder doch hauptsächlich das Tagewerk war, das
ihre Gesundheit untergrub und ihre Nerven rebellisch machte:
der Beruf mit seinen Ansprüchen und Schädlichkeiten. Stellt
nun aber der Arzt mit jedem dieser Märtyrer der Arbeit ein
Verhör an über ihre Lebensweise, so zeigt sich, daß überall
so viel Anderes geschah, welches auch, welches allein an Allem
schuld sein kann, daß ich keck behaupte -- -- nein, ich will
nichts behaupten, sondern nur eine Frage thun: wie viele
unter tausend Fällen mögen wohl sein, in denen eine absolute
Nothwendigkeit vorlag für jenes Uebermaß von Thätigkeit,
dessen Folge Zerrüttung der Gesundheit ist, wo sonst nichts
hinzukam, das mindestens als Mitursache zu betrachten
wäre? --

Was soll nun aber jenem Weltgesetze gegenüber Einer
thun, der mit seiner Geburt in unsrer Zone auf Thätigkeit
gewiesen, und doch durch körperliche oder geistige Dinge daran
gehindert und zu Müßiggang verurtheilt ist? Auswandern
in die Länder der Palmen, wo sich leichter ungestraft faulenzen
läßt? -- Wer in Indien gelebt hat, weiß, daß dort die
Europäer von der Langenweile weit ärger als von Insecten
und Fiebern geplagt werden, und auch in Sicilien, Madeira,
Algier, Aegypten ertappen sich Nordländer oft auf den
ärgerlichsten Grillen, der Himmel ist ihnen zu blau, die
immergrünen Laubbäume machen sie ungeduldig und die ewig
lächelnde Flora ist eine ennuyante, zudringliche Person. Mit
Flucht ist also nichts gethan, im Gegentheil lauern überall
geheime Agenten, um Deserteurs, die sich der von Land und
Stamm ihnen auferlegten Dienstpflicht entziehen wollen, zu

V. Segen der Arbeit — Lectionen im Müßiggang.

So halte ich denn an der Meinung feſt, die Arbeit,
ſo lange ſie innerhalb gewiſſer Schranken bleibt, iſt unſre
Freundin und Wohlthäterin. Wohlthäter ſind aber nie zu-
gleich Schmeichler, ſondern ernſte, ſtrenge Lehrer, deshalb
wenig geliebt, viel verkannt, geſchmäht, verläumdet. Auch
die Arbeit hat dieſes Schickſal. Hören wir die Curgäſte, ſie
werden faſt alle behaupten, die meiſten auch wirklich glauben,
daß es allein oder doch hauptſächlich das Tagewerk war, das
ihre Geſundheit untergrub und ihre Nerven rebelliſch machte:
der Beruf mit ſeinen Anſprüchen und Schädlichkeiten. Stellt
nun aber der Arzt mit jedem dieſer Märtyrer der Arbeit ein
Verhör an über ihre Lebensweiſe, ſo zeigt ſich, daß überall
ſo viel Anderes geſchah, welches auch, welches allein an Allem
ſchuld ſein kann, daß ich keck behaupte — — nein, ich will
nichts behaupten, ſondern nur eine Frage thun: wie viele
unter tauſend Fällen mögen wohl ſein, in denen eine abſolute
Nothwendigkeit vorlag für jenes Uebermaß von Thätigkeit,
deſſen Folge Zerrüttung der Geſundheit iſt, wo ſonſt nichts
hinzukam, das mindeſtens als Miturſache zu betrachten
wäre? —

Was ſoll nun aber jenem Weltgeſetze gegenüber Einer
thun, der mit ſeiner Geburt in unſrer Zone auf Thätigkeit
gewieſen, und doch durch körperliche oder geiſtige Dinge daran
gehindert und zu Müßiggang verurtheilt iſt? Auswandern
in die Länder der Palmen, wo ſich leichter ungeſtraft faulenzen
läßt? — Wer in Indien gelebt hat, weiß, daß dort die
Europäer von der Langenweile weit ärger als von Inſecten
und Fiebern geplagt werden, und auch in Sicilien, Madeira,
Algier, Aegypten ertappen ſich Nordländer oft auf den
ärgerlichſten Grillen, der Himmel iſt ihnen zu blau, die
immergrünen Laubbäume machen ſie ungeduldig und die ewig
lächelnde Flora iſt eine ennuyante, zudringliche Perſon. Mit
Flucht iſt alſo nichts gethan, im Gegentheil lauern überall
geheime Agenten, um Deſerteurs, die ſich der von Land und
Stamm ihnen auferlegten Dienſtpflicht entziehen wollen, zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0169" n="155"/>
        <fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> Segen der Arbeit &#x2014; Lectionen im Müßiggang.</fw><lb/>
        <p>So halte ich denn an der Meinung fe&#x017F;t, die Arbeit,<lb/>
&#x017F;o lange &#x017F;ie innerhalb gewi&#x017F;&#x017F;er Schranken bleibt, i&#x017F;t un&#x017F;re<lb/>
Freundin und Wohlthäterin. Wohlthäter &#x017F;ind aber nie zu-<lb/>
gleich Schmeichler, &#x017F;ondern ern&#x017F;te, &#x017F;trenge Lehrer, deshalb<lb/>
wenig geliebt, viel verkannt, ge&#x017F;chmäht, verläumdet. Auch<lb/>
die Arbeit hat die&#x017F;es Schick&#x017F;al. Hören wir die Curgä&#x017F;te, &#x017F;ie<lb/>
werden fa&#x017F;t alle behaupten, die mei&#x017F;ten auch wirklich glauben,<lb/>
daß es allein oder doch haupt&#x017F;ächlich das Tagewerk war, das<lb/>
ihre Ge&#x017F;undheit untergrub und ihre Nerven rebelli&#x017F;ch machte:<lb/>
der Beruf mit &#x017F;einen An&#x017F;prüchen und Schädlichkeiten. Stellt<lb/>
nun aber der Arzt mit jedem die&#x017F;er Märtyrer der Arbeit ein<lb/>
Verhör an über ihre Lebenswei&#x017F;e, &#x017F;o zeigt &#x017F;ich, daß überall<lb/>
&#x017F;o viel Anderes ge&#x017F;chah, welches auch, welches allein an Allem<lb/>
&#x017F;chuld &#x017F;ein kann, daß ich keck behaupte &#x2014; &#x2014; nein, ich will<lb/>
nichts behaupten, &#x017F;ondern nur eine Frage thun: wie viele<lb/>
unter tau&#x017F;end Fällen mögen wohl &#x017F;ein, in denen eine ab&#x017F;olute<lb/>
Nothwendigkeit vorlag für jenes Uebermaß von Thätigkeit,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Folge Zerrüttung der Ge&#x017F;undheit i&#x017F;t, wo &#x017F;on&#x017F;t nichts<lb/>
hinzukam, das minde&#x017F;tens als Mitur&#x017F;ache zu betrachten<lb/>
wäre? &#x2014;</p><lb/>
        <p>Was &#x017F;oll nun aber jenem Weltge&#x017F;etze gegenüber Einer<lb/>
thun, der mit &#x017F;einer Geburt in un&#x017F;rer Zone auf Thätigkeit<lb/>
gewie&#x017F;en, und doch durch körperliche oder gei&#x017F;tige Dinge daran<lb/>
gehindert und zu Müßiggang verurtheilt i&#x017F;t? Auswandern<lb/>
in die Länder der Palmen, wo &#x017F;ich leichter unge&#x017F;traft faulenzen<lb/>
läßt? &#x2014; Wer in <placeName>Indien</placeName> gelebt hat, weiß, daß dort die<lb/>
Europäer von der Langenweile weit ärger als von In&#x017F;ecten<lb/>
und Fiebern geplagt werden, und auch in <placeName>Sicilien</placeName>, <placeName>Madeira</placeName>,<lb/><placeName>Algier</placeName>, <placeName>Aegypten</placeName> ertappen &#x017F;ich Nordländer oft auf den<lb/>
ärgerlich&#x017F;ten Grillen, der Himmel i&#x017F;t ihnen zu blau, die<lb/>
immergrünen Laubbäume machen &#x017F;ie ungeduldig und die ewig<lb/>
lächelnde Flora i&#x017F;t eine ennuyante, zudringliche Per&#x017F;on. Mit<lb/>
Flucht i&#x017F;t al&#x017F;o nichts gethan, im Gegentheil lauern überall<lb/>
geheime Agenten, um De&#x017F;erteurs, die &#x017F;ich der von Land und<lb/>
Stamm ihnen auferlegten Dien&#x017F;tpflicht entziehen wollen, zu<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[155/0169] V. Segen der Arbeit — Lectionen im Müßiggang. So halte ich denn an der Meinung feſt, die Arbeit, ſo lange ſie innerhalb gewiſſer Schranken bleibt, iſt unſre Freundin und Wohlthäterin. Wohlthäter ſind aber nie zu- gleich Schmeichler, ſondern ernſte, ſtrenge Lehrer, deshalb wenig geliebt, viel verkannt, geſchmäht, verläumdet. Auch die Arbeit hat dieſes Schickſal. Hören wir die Curgäſte, ſie werden faſt alle behaupten, die meiſten auch wirklich glauben, daß es allein oder doch hauptſächlich das Tagewerk war, das ihre Geſundheit untergrub und ihre Nerven rebelliſch machte: der Beruf mit ſeinen Anſprüchen und Schädlichkeiten. Stellt nun aber der Arzt mit jedem dieſer Märtyrer der Arbeit ein Verhör an über ihre Lebensweiſe, ſo zeigt ſich, daß überall ſo viel Anderes geſchah, welches auch, welches allein an Allem ſchuld ſein kann, daß ich keck behaupte — — nein, ich will nichts behaupten, ſondern nur eine Frage thun: wie viele unter tauſend Fällen mögen wohl ſein, in denen eine abſolute Nothwendigkeit vorlag für jenes Uebermaß von Thätigkeit, deſſen Folge Zerrüttung der Geſundheit iſt, wo ſonſt nichts hinzukam, das mindeſtens als Miturſache zu betrachten wäre? — Was ſoll nun aber jenem Weltgeſetze gegenüber Einer thun, der mit ſeiner Geburt in unſrer Zone auf Thätigkeit gewieſen, und doch durch körperliche oder geiſtige Dinge daran gehindert und zu Müßiggang verurtheilt iſt? Auswandern in die Länder der Palmen, wo ſich leichter ungeſtraft faulenzen läßt? — Wer in Indien gelebt hat, weiß, daß dort die Europäer von der Langenweile weit ärger als von Inſecten und Fiebern geplagt werden, und auch in Sicilien, Madeira, Algier, Aegypten ertappen ſich Nordländer oft auf den ärgerlichſten Grillen, der Himmel iſt ihnen zu blau, die immergrünen Laubbäume machen ſie ungeduldig und die ewig lächelnde Flora iſt eine ennuyante, zudringliche Perſon. Mit Flucht iſt alſo nichts gethan, im Gegentheil lauern überall geheime Agenten, um Deſerteurs, die ſich der von Land und Stamm ihnen auferlegten Dienſtpflicht entziehen wollen, zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/169
Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/169>, abgerufen am 25.11.2024.