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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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V. Geographie der Langenweile.
emporragen über den Dunstkreis der Langenweile; ihr Geist
arbeitet in ihnen, für sie, sie brauchen nicht Hand noch Fuß
zu regen, um ihn zu spornen, wieder andere gibt es, die nur
ein dumpfes Pflanzenleben führen und sich nicht bis zur Höhe
der Langenweile erheben, wir Uebrigen jedoch, die Mehrzahl
der Culturmenschen, bedürfen irgend einer Art von Arbeit.

In den Ländern, wo die Sonne wärmere Strahlen hat
und die Erde beflissen ist, den Menschen aller Mühe zu ent-
heben, mag man vom dolce far niente sprechen, noch weiter
gen Mittag mögen Tausende die Tage hinbringen, ihre
Nasenspitze zu betrachten, Millionen sich in Nirvana ein-
wiegen, wir Nordländer sind einmal auf Thätigkeit an-
gewiesen. Die Menschheit ist in's Mannesalter getreten,
die Cultur hat sich in nördlichen Breiten angesiedelt, weit ab
vom irdischen Paradiese, die Sehnen unsres Körpers und
Geistes sollen straffer werden, wir sollen lernen, mehr zu
arbeiten und weniger zu ruhen. Wissenschaft, Kunst, Handel,
Industrie haben sich aus allen jenen "gesegneten" Ländern
der Milch und des Honigs, der Datteln, der Feigen und der
Trägen zurückgezogen und ihren Sitz dorthin verlegt, wo
Eisen und Kohlen wuchsen, wo der Mensch alle Kräfte auf-
bieten muß, um dem Boden Brod abzugewinnen. Auch der
Gott der Schlachten begünstigt den Norden, so in Deutsch-
land
, in Italien, in Amerika. Während auf der einen Seite
der Fleiß sich belohnt sieht durch materielle und geistige Güter,
droht auf der andern der Trägheit die Strafe. Ueber die
Schlaffen schwingt ihre furchtbare Geißel die Langeweile,
eine Zuchtruthe, die in unsren Zeiten und Zonen gefährliche
Wunden schlägt, in ihrem Gefolge Lebensüberdruß, Irrsinn
und Selbstmord. Alle diese Schrecken waren in alten Zeiten
und sind noch heute im Süden selten. *)

*) Auch dabei scheint der Einfluß der freien Luft, mit welcher alle diese Völker-
stämme auf vertrauterem Fuße leben, als wir Nordländer, sich geltend zu machen,
wenngleich noch andere Dinge mitwirken mögen, wie z. B. daß der Süden in
geistigen Anstrengungen und geistigen Getränken mäßiger ist, als der Norden.

V. Geographie der Langenweile.
emporragen über den Dunſtkreis der Langenweile; ihr Geiſt
arbeitet in ihnen, für ſie, ſie brauchen nicht Hand noch Fuß
zu regen, um ihn zu ſpornen, wieder andere gibt es, die nur
ein dumpfes Pflanzenleben führen und ſich nicht bis zur Höhe
der Langenweile erheben, wir Uebrigen jedoch, die Mehrzahl
der Culturmenſchen, bedürfen irgend einer Art von Arbeit.

In den Ländern, wo die Sonne wärmere Strahlen hat
und die Erde befliſſen iſt, den Menſchen aller Mühe zu ent-
heben, mag man vom dolce far niente ſprechen, noch weiter
gen Mittag mögen Tauſende die Tage hinbringen, ihre
Naſenſpitze zu betrachten, Millionen ſich in Nirvana ein-
wiegen, wir Nordländer ſind einmal auf Thätigkeit an-
gewieſen. Die Menſchheit iſt in’s Mannesalter getreten,
die Cultur hat ſich in nördlichen Breiten angeſiedelt, weit ab
vom irdiſchen Paradieſe, die Sehnen unſres Körpers und
Geiſtes ſollen ſtraffer werden, wir ſollen lernen, mehr zu
arbeiten und weniger zu ruhen. Wiſſenſchaft, Kunſt, Handel,
Induſtrie haben ſich aus allen jenen „geſegneten“ Ländern
der Milch und des Honigs, der Datteln, der Feigen und der
Trägen zurückgezogen und ihren Sitz dorthin verlegt, wo
Eiſen und Kohlen wuchſen, wo der Menſch alle Kräfte auf-
bieten muß, um dem Boden Brod abzugewinnen. Auch der
Gott der Schlachten begünſtigt den Norden, ſo in Deutſch-
land
, in Italien, in Amerika. Während auf der einen Seite
der Fleiß ſich belohnt ſieht durch materielle und geiſtige Güter,
droht auf der andern der Trägheit die Strafe. Ueber die
Schlaffen ſchwingt ihre furchtbare Geißel die Langeweile,
eine Zuchtruthe, die in unſren Zeiten und Zonen gefährliche
Wunden ſchlägt, in ihrem Gefolge Lebensüberdruß, Irrſinn
und Selbſtmord. Alle dieſe Schrecken waren in alten Zeiten
und ſind noch heute im Süden ſelten. *)

*) Auch dabei ſcheint der Einfluß der freien Luft, mit welcher alle dieſe Völker-
ſtämme auf vertrauterem Fuße leben, als wir Nordländer, ſich geltend zu machen,
wenngleich noch andere Dinge mitwirken mögen, wie z. B. daß der Süden in
geiſtigen Anſtrengungen und geiſtigen Getränken mäßiger iſt, als der Norden.
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[154/0168] V. Geographie der Langenweile. emporragen über den Dunſtkreis der Langenweile; ihr Geiſt arbeitet in ihnen, für ſie, ſie brauchen nicht Hand noch Fuß zu regen, um ihn zu ſpornen, wieder andere gibt es, die nur ein dumpfes Pflanzenleben führen und ſich nicht bis zur Höhe der Langenweile erheben, wir Uebrigen jedoch, die Mehrzahl der Culturmenſchen, bedürfen irgend einer Art von Arbeit. In den Ländern, wo die Sonne wärmere Strahlen hat und die Erde befliſſen iſt, den Menſchen aller Mühe zu ent- heben, mag man vom dolce far niente ſprechen, noch weiter gen Mittag mögen Tauſende die Tage hinbringen, ihre Naſenſpitze zu betrachten, Millionen ſich in Nirvana ein- wiegen, wir Nordländer ſind einmal auf Thätigkeit an- gewieſen. Die Menſchheit iſt in’s Mannesalter getreten, die Cultur hat ſich in nördlichen Breiten angeſiedelt, weit ab vom irdiſchen Paradieſe, die Sehnen unſres Körpers und Geiſtes ſollen ſtraffer werden, wir ſollen lernen, mehr zu arbeiten und weniger zu ruhen. Wiſſenſchaft, Kunſt, Handel, Induſtrie haben ſich aus allen jenen „geſegneten“ Ländern der Milch und des Honigs, der Datteln, der Feigen und der Trägen zurückgezogen und ihren Sitz dorthin verlegt, wo Eiſen und Kohlen wuchſen, wo der Menſch alle Kräfte auf- bieten muß, um dem Boden Brod abzugewinnen. Auch der Gott der Schlachten begünſtigt den Norden, ſo in Deutſch- land, in Italien, in Amerika. Während auf der einen Seite der Fleiß ſich belohnt ſieht durch materielle und geiſtige Güter, droht auf der andern der Trägheit die Strafe. Ueber die Schlaffen ſchwingt ihre furchtbare Geißel die Langeweile, eine Zuchtruthe, die in unſren Zeiten und Zonen gefährliche Wunden ſchlägt, in ihrem Gefolge Lebensüberdruß, Irrſinn und Selbſtmord. Alle dieſe Schrecken waren in alten Zeiten und ſind noch heute im Süden ſelten. *) *) Auch dabei ſcheint der Einfluß der freien Luft, mit welcher alle dieſe Völker- ſtämme auf vertrauterem Fuße leben, als wir Nordländer, ſich geltend zu machen, wenngleich noch andere Dinge mitwirken mögen, wie z. B. daß der Süden in geiſtigen Anſtrengungen und geiſtigen Getränken mäßiger iſt, als der Norden.

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/168>, abgerufen am 05.05.2024.