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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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V. Satzungen.
proclamirt wurde, neben anderen Paragraphen der Haus-
ordnung über Rauchen, Klavierspielen, Singen, Zimmer-
turnen, gestiefelte Zimmerpromenaden u. s. w. Dabei aber
war unter uns die Meinung vorherrschend, daß diese Tyrannei
in der Tischordnung und andere unerhörte Bestimmungen
von der alten Dame so gehandhabt wurden, daß dadurch
Quellen der Unterhaltung geöffnet und der Disharmonie
verstopft wurden. Wie ihre gleichfalls verwittwete Tochter,
saß sie selbst bald hier bald da. Einige behaupteten, daß
sie ein feineres Sensorium für die Interessen ihrer Pfleglinge
habe, als diese in der Regel selbst, daß sie z. B. zwei
Nachbaren, die oft von ihren körperlichen Angelegenheiten
sprachen, ebenso Solche, die sich streitsüchtig, oder allzu
redselig, oder allzu schweigsam zeigten, unbarmherzig aus-
einander zu reißen pflegte, dagegen wieder Andere, die bis
dahin noch wenig wechselseitige Berührungen gehabt, bei
denen sie jedoch Wahlverwandtschaft vermuthete, plötzlich
wochenlang zusammensetzte. Die in Form und Farbe ver-
schiedenen Serviettenbänder signalisirten für jeden Mittag
die Quartierliste. Wie sich denken läßt, fehlte es von Seite
neuer Ankömmlinge nicht an erstaunten, gereizten Fragen,
Bitten, Vorstellungen, Spöttereien, Allem setzte sie jedoch
einen sanften zähen Widerstand entgegen, ließ sich nie auf
eine ernsthafte Motivirung ein, gab auch nie zu, daß sie
nach gewissen Grundsätzen und zu bestimmten Zwecken so
verfahre, vermuthlich um alle Empfindlichkeiten zu schonen.
Von Redensarten wie: "gönnen Sie mir alten Frau doch
dies Spielwerk", "lassen Sie mir doch dies kleine Stück
Freiheit, in allem Uebrigen bin ich ja doch Ihre Sclavin",
"es ist einmal meine Grille", "bin's mal so gewohnt",
"Zufall, nichts als Zufall" u. dgl. hatte sie stets in ihrer
Vorrathskammer eine reiche Auswahl, wie von eingemachten
Früchten mit und ohne Zusatz von Essig oder Citronensäure.
Ihre Feinde -- sie hatte deren nur unter benachbarten
Pensionshaltern -- erklärten sie für herrschsüchtig, eitel,

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V. Satzungen.
proclamirt wurde, neben anderen Paragraphen der Haus-
ordnung über Rauchen, Klavierſpielen, Singen, Zimmer-
turnen, geſtiefelte Zimmerpromenaden u. ſ. w. Dabei aber
war unter uns die Meinung vorherrſchend, daß dieſe Tyrannei
in der Tiſchordnung und andere unerhörte Beſtimmungen
von der alten Dame ſo gehandhabt wurden, daß dadurch
Quellen der Unterhaltung geöffnet und der Disharmonie
verſtopft wurden. Wie ihre gleichfalls verwittwete Tochter,
ſaß ſie ſelbſt bald hier bald da. Einige behaupteten, daß
ſie ein feineres Senſorium für die Intereſſen ihrer Pfleglinge
habe, als dieſe in der Regel ſelbſt, daß ſie z. B. zwei
Nachbaren, die oft von ihren körperlichen Angelegenheiten
ſprachen, ebenſo Solche, die ſich ſtreitſüchtig, oder allzu
redſelig, oder allzu ſchweigſam zeigten, unbarmherzig aus-
einander zu reißen pflegte, dagegen wieder Andere, die bis
dahin noch wenig wechſelſeitige Berührungen gehabt, bei
denen ſie jedoch Wahlverwandtſchaft vermuthete, plötzlich
wochenlang zuſammenſetzte. Die in Form und Farbe ver-
ſchiedenen Serviettenbänder ſignaliſirten für jeden Mittag
die Quartierliſte. Wie ſich denken läßt, fehlte es von Seite
neuer Ankömmlinge nicht an erſtaunten, gereizten Fragen,
Bitten, Vorſtellungen, Spöttereien, Allem ſetzte ſie jedoch
einen ſanften zähen Widerſtand entgegen, ließ ſich nie auf
eine ernſthafte Motivirung ein, gab auch nie zu, daß ſie
nach gewiſſen Grundſätzen und zu beſtimmten Zwecken ſo
verfahre, vermuthlich um alle Empfindlichkeiten zu ſchonen.
Von Redensarten wie: „gönnen Sie mir alten Frau doch
dies Spielwerk“, „laſſen Sie mir doch dies kleine Stück
Freiheit, in allem Uebrigen bin ich ja doch Ihre Sclavin“,
„es iſt einmal meine Grille“, „bin’s mal ſo gewohnt“,
„Zufall, nichts als Zufall“ u. dgl. hatte ſie ſtets in ihrer
Vorrathskammer eine reiche Auswahl, wie von eingemachten
Früchten mit und ohne Zuſatz von Eſſig oder Citronenſäure.
Ihre Feinde — ſie hatte deren nur unter benachbarten
Penſionshaltern — erklärten ſie für herrſchſüchtig, eitel,

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[147/0161] V. Satzungen. proclamirt wurde, neben anderen Paragraphen der Haus- ordnung über Rauchen, Klavierſpielen, Singen, Zimmer- turnen, geſtiefelte Zimmerpromenaden u. ſ. w. Dabei aber war unter uns die Meinung vorherrſchend, daß dieſe Tyrannei in der Tiſchordnung und andere unerhörte Beſtimmungen von der alten Dame ſo gehandhabt wurden, daß dadurch Quellen der Unterhaltung geöffnet und der Disharmonie verſtopft wurden. Wie ihre gleichfalls verwittwete Tochter, ſaß ſie ſelbſt bald hier bald da. Einige behaupteten, daß ſie ein feineres Senſorium für die Intereſſen ihrer Pfleglinge habe, als dieſe in der Regel ſelbſt, daß ſie z. B. zwei Nachbaren, die oft von ihren körperlichen Angelegenheiten ſprachen, ebenſo Solche, die ſich ſtreitſüchtig, oder allzu redſelig, oder allzu ſchweigſam zeigten, unbarmherzig aus- einander zu reißen pflegte, dagegen wieder Andere, die bis dahin noch wenig wechſelſeitige Berührungen gehabt, bei denen ſie jedoch Wahlverwandtſchaft vermuthete, plötzlich wochenlang zuſammenſetzte. Die in Form und Farbe ver- ſchiedenen Serviettenbänder ſignaliſirten für jeden Mittag die Quartierliſte. Wie ſich denken läßt, fehlte es von Seite neuer Ankömmlinge nicht an erſtaunten, gereizten Fragen, Bitten, Vorſtellungen, Spöttereien, Allem ſetzte ſie jedoch einen ſanften zähen Widerſtand entgegen, ließ ſich nie auf eine ernſthafte Motivirung ein, gab auch nie zu, daß ſie nach gewiſſen Grundſätzen und zu beſtimmten Zwecken ſo verfahre, vermuthlich um alle Empfindlichkeiten zu ſchonen. Von Redensarten wie: „gönnen Sie mir alten Frau doch dies Spielwerk“, „laſſen Sie mir doch dies kleine Stück Freiheit, in allem Uebrigen bin ich ja doch Ihre Sclavin“, „es iſt einmal meine Grille“, „bin’s mal ſo gewohnt“, „Zufall, nichts als Zufall“ u. dgl. hatte ſie ſtets in ihrer Vorrathskammer eine reiche Auswahl, wie von eingemachten Früchten mit und ohne Zuſatz von Eſſig oder Citronenſäure. Ihre Feinde — ſie hatte deren nur unter benachbarten Penſionshaltern — erklärten ſie für herrſchſüchtig, eitel, 10*

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/161>, abgerufen am 24.11.2024.