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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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V. Nordlicht.
brandet, groteske Eisformationen, ferner einen Cyklus von
Darstellungen des Nordlichts, das er in allen Phasen
beobachtet und wiederzugeben versucht hatte. Er mag wohl
Recht haben, daß kaum eine andere Naturscene einen Maler
dermaßen in Entzücken und zur Verzweiflung bringen kann,
in Entzücken über die Pracht, Mannigfaltigkeit, Seltsamkeit
der Erscheinungen, in Verzweiflung über das eigene Un-
vermögen, sie nur annähernd wiederzugeben. Da liegen
nun alle diese Sächelchen, rief er mit komischem Pathos,
und machen sich lustig über mich. Ich komme mir vor wie
Einer, der Traumgesichte beschreiben will. Ich fühle, daß
ich nur einen kleinen Theil der Wirklichkeit auf's Papier
zu heften vermochte und doch jeder Beschauer mich der Ueber-
treibung und Phantasterei zeihen wird. Wer sie nicht gesehen
hat, diese Wunder von blauen, grünen, rothen, gelben,
weißen Strahlen, die bald blitzartig zum Zenith hinaufzucken,
bald sich durchkreuzen, Fächer, Kronen bilden, jetzt den ganzen
Horizont wie ein großes weißes, faltiges Gewand erscheinen
lassen und jetzt wieder wie mit Feuer übergießen -- wer
alle diese Formen-, Licht- und Farbenwunder nicht geschaut
hat, hält jede Abbildung für müßiges Pinselspiel. Damit ich
wenigstens bei kindlichen Gemüthern Glauben finde, möchte
ich ein Märchen vom Winterkönig schreiben und mit jenen
Motiven illustriren.

Die Königin der glücklichen Insel, unsere Pensions-
mutter oder Providenz, wie sie gewöhnlich von ihren Pfleg-
lingen genannt wurde, war ein Wesen eigenthümlicher Art.
Seit jeher hatte sie die Satzung einzuführen und trotz allen
Anfechtungen aufrecht zu halten gewußt, daß der Platz
beim Mittagstisch nicht vom Belieben der Einzelnen abhing,
eben so wenig überließ sie einem Zufall, wie dem Tage der
Ankunft, die Rolle des Quartiermeisters, vielmehr nahm
sie diese als ihr Recht in Anspruch. Im Speisesaal und in
den Stuben hing ein Placat, worin das in drei Sprachen

V. Nordlicht.
brandet, groteske Eisformationen, ferner einen Cyklus von
Darſtellungen des Nordlichts, das er in allen Phaſen
beobachtet und wiederzugeben verſucht hatte. Er mag wohl
Recht haben, daß kaum eine andere Naturſcene einen Maler
dermaßen in Entzücken und zur Verzweiflung bringen kann,
in Entzücken über die Pracht, Mannigfaltigkeit, Seltſamkeit
der Erſcheinungen, in Verzweiflung über das eigene Un-
vermögen, ſie nur annähernd wiederzugeben. Da liegen
nun alle dieſe Sächelchen, rief er mit komiſchem Pathos,
und machen ſich luſtig über mich. Ich komme mir vor wie
Einer, der Traumgeſichte beſchreiben will. Ich fühle, daß
ich nur einen kleinen Theil der Wirklichkeit auf’s Papier
zu heften vermochte und doch jeder Beſchauer mich der Ueber-
treibung und Phantaſterei zeihen wird. Wer ſie nicht geſehen
hat, dieſe Wunder von blauen, grünen, rothen, gelben,
weißen Strahlen, die bald blitzartig zum Zenith hinaufzucken,
bald ſich durchkreuzen, Fächer, Kronen bilden, jetzt den ganzen
Horizont wie ein großes weißes, faltiges Gewand erſcheinen
laſſen und jetzt wieder wie mit Feuer übergießen — wer
alle dieſe Formen-, Licht- und Farbenwunder nicht geſchaut
hat, hält jede Abbildung für müßiges Pinſelſpiel. Damit ich
wenigſtens bei kindlichen Gemüthern Glauben finde, möchte
ich ein Märchen vom Winterkönig ſchreiben und mit jenen
Motiven illuſtriren.

Die Königin der glücklichen Inſel, unſere Penſions-
mutter oder Providenz, wie ſie gewöhnlich von ihren Pfleg-
lingen genannt wurde, war ein Weſen eigenthümlicher Art.
Seit jeher hatte ſie die Satzung einzuführen und trotz allen
Anfechtungen aufrecht zu halten gewußt, daß der Platz
beim Mittagstiſch nicht vom Belieben der Einzelnen abhing,
eben ſo wenig überließ ſie einem Zufall, wie dem Tage der
Ankunft, die Rolle des Quartiermeiſters, vielmehr nahm
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[146/0160] V. Nordlicht. brandet, groteske Eisformationen, ferner einen Cyklus von Darſtellungen des Nordlichts, das er in allen Phaſen beobachtet und wiederzugeben verſucht hatte. Er mag wohl Recht haben, daß kaum eine andere Naturſcene einen Maler dermaßen in Entzücken und zur Verzweiflung bringen kann, in Entzücken über die Pracht, Mannigfaltigkeit, Seltſamkeit der Erſcheinungen, in Verzweiflung über das eigene Un- vermögen, ſie nur annähernd wiederzugeben. Da liegen nun alle dieſe Sächelchen, rief er mit komiſchem Pathos, und machen ſich luſtig über mich. Ich komme mir vor wie Einer, der Traumgeſichte beſchreiben will. Ich fühle, daß ich nur einen kleinen Theil der Wirklichkeit auf’s Papier zu heften vermochte und doch jeder Beſchauer mich der Ueber- treibung und Phantaſterei zeihen wird. Wer ſie nicht geſehen hat, dieſe Wunder von blauen, grünen, rothen, gelben, weißen Strahlen, die bald blitzartig zum Zenith hinaufzucken, bald ſich durchkreuzen, Fächer, Kronen bilden, jetzt den ganzen Horizont wie ein großes weißes, faltiges Gewand erſcheinen laſſen und jetzt wieder wie mit Feuer übergießen — wer alle dieſe Formen-, Licht- und Farbenwunder nicht geſchaut hat, hält jede Abbildung für müßiges Pinſelſpiel. Damit ich wenigſtens bei kindlichen Gemüthern Glauben finde, möchte ich ein Märchen vom Winterkönig ſchreiben und mit jenen Motiven illuſtriren. Die Königin der glücklichen Inſel, unſere Penſions- mutter oder Providenz, wie ſie gewöhnlich von ihren Pfleg- lingen genannt wurde, war ein Weſen eigenthümlicher Art. Seit jeher hatte ſie die Satzung einzuführen und trotz allen Anfechtungen aufrecht zu halten gewußt, daß der Platz beim Mittagstiſch nicht vom Belieben der Einzelnen abhing, eben ſo wenig überließ ſie einem Zufall, wie dem Tage der Ankunft, die Rolle des Quartiermeiſters, vielmehr nahm ſie dieſe als ihr Recht in Anſpruch. Im Speiſeſaal und in den Stuben hing ein Placat, worin das in drei Sprachen

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/160>, abgerufen am 05.05.2024.