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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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V. Drückende Nahrungssorgen.
sitzen gestatten, dafür benutzen und nicht für Spaziergänge,
diese vielmehr auf die kühleren Stunden vorher und nachher
verlegen -- eine Vorschrift, die selbstverständlich gewisse Aus-
nahmen erfährt, z. B. bei empfindlichen Lungenkranken --
er wird ferner möglichst im Freien, im Garten oder auf dem
Balcon, Besuche empfangen, Mittags- und Abendmal halten,
Schreibereien vornehmen etc. (Vergl. Schluß dieses Abschnitts.)

So hoch nun aber auch der Werth der Luft anzuschlagen
ist, so muß ich mich doch ausdrücklich gegen den Verdacht
wehren, daß ich nach der Seite hin die Ansicht fast sämmt-
licher Curplatzwirthe theilte, welche geradezu glauben, der
Mensch, wenigstens der Curgast, könne von Luft allein leben,
und deshalb ihr Dichten und Trachten darauf richten, alle
nährenden Bestandtheile aus den Speisen zu entfernen. Es
wird gestritten, ob dies auf Rechnung der Viehseuchen und
der allgemeinen Preiserhöhung der Lebensmittel oder der
gesteigerten Habgier der Wirthe zu schreiben sei. Ich könnte
eine lange Reihe von Oertlichkeiten nennen, in welchen ehedem
eine gute, nahrhafte Kost zu finden war, und die erst, seitdem
sie auch vielfach als Luftbäder dienen, die Auskochkunst in
höchster Vollkommenheit betreiben, möchte deshalb die Ursache
eher darin suchen, daß Badeärzte und Hausbesitzer so viel von
"unsrer herrlichen Luft" und deren "an's Wunderbare gren-
zenden kräftigenden Wirkungen" gesprochen haben, daß Wirthe
und Garköche es für Pflicht halten, der "Erneuerung des
Bluts" nicht durch Verabreichung althergebrachter Nahrungs-
stoffe entgegen zu arbeiten. So sieht man denn jetzt häufig
Gäste bei Tische eine Büchse mit Fleischextract neben sich
stellen und aus dieser den Suppen und Saucen, noch bevor
sie gekostet haben, zusetzen, denn sie wissen im voraus, daß
das Deficit mit derselben Regelmäßigkeit wiederkehrt, wie im
österreichischen und französischen Finanzbudget. Die Speisen
betrachten sie nicht als Nahrungsmittel, sondern nur als
Vehikel für die aus der münchener Hofapotheke bezogene
Latwerge.

V. Drückende Nahrungsſorgen.
ſitzen geſtatten, dafür benutzen und nicht für Spaziergänge,
dieſe vielmehr auf die kühleren Stunden vorher und nachher
verlegen — eine Vorſchrift, die ſelbſtverſtändlich gewiſſe Aus-
nahmen erfährt, z. B. bei empfindlichen Lungenkranken —
er wird ferner möglichſt im Freien, im Garten oder auf dem
Balcon, Beſuche empfangen, Mittags- und Abendmal halten,
Schreibereien vornehmen ꝛc. (Vergl. Schluß dieſes Abſchnitts.)

So hoch nun aber auch der Werth der Luft anzuſchlagen
iſt, ſo muß ich mich doch ausdrücklich gegen den Verdacht
wehren, daß ich nach der Seite hin die Anſicht faſt ſämmt-
licher Curplatzwirthe theilte, welche geradezu glauben, der
Menſch, wenigſtens der Curgaſt, könne von Luft allein leben,
und deshalb ihr Dichten und Trachten darauf richten, alle
nährenden Beſtandtheile aus den Speiſen zu entfernen. Es
wird geſtritten, ob dies auf Rechnung der Viehſeuchen und
der allgemeinen Preiserhöhung der Lebensmittel oder der
geſteigerten Habgier der Wirthe zu ſchreiben ſei. Ich könnte
eine lange Reihe von Oertlichkeiten nennen, in welchen ehedem
eine gute, nahrhafte Koſt zu finden war, und die erſt, ſeitdem
ſie auch vielfach als Luftbäder dienen, die Auskochkunſt in
höchſter Vollkommenheit betreiben, möchte deshalb die Urſache
eher darin ſuchen, daß Badeärzte und Hausbeſitzer ſo viel von
„unſrer herrlichen Luft“ und deren „an’s Wunderbare gren-
zenden kräftigenden Wirkungen“ geſprochen haben, daß Wirthe
und Garköche es für Pflicht halten, der „Erneuerung des
Bluts“ nicht durch Verabreichung althergebrachter Nahrungs-
ſtoffe entgegen zu arbeiten. So ſieht man denn jetzt häufig
Gäſte bei Tiſche eine Büchſe mit Fleiſchextract neben ſich
ſtellen und aus dieſer den Suppen und Saucen, noch bevor
ſie gekoſtet haben, zuſetzen, denn ſie wiſſen im voraus, daß
das Deficit mit derſelben Regelmäßigkeit wiederkehrt, wie im
öſterreichiſchen und franzöſiſchen Finanzbudget. Die Speiſen
betrachten ſie nicht als Nahrungsmittel, ſondern nur als
Vehikel für die aus der münchener Hofapotheke bezogene
Latwerge.

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[135/0149] V. Drückende Nahrungsſorgen. ſitzen geſtatten, dafür benutzen und nicht für Spaziergänge, dieſe vielmehr auf die kühleren Stunden vorher und nachher verlegen — eine Vorſchrift, die ſelbſtverſtändlich gewiſſe Aus- nahmen erfährt, z. B. bei empfindlichen Lungenkranken — er wird ferner möglichſt im Freien, im Garten oder auf dem Balcon, Beſuche empfangen, Mittags- und Abendmal halten, Schreibereien vornehmen ꝛc. (Vergl. Schluß dieſes Abſchnitts.) So hoch nun aber auch der Werth der Luft anzuſchlagen iſt, ſo muß ich mich doch ausdrücklich gegen den Verdacht wehren, daß ich nach der Seite hin die Anſicht faſt ſämmt- licher Curplatzwirthe theilte, welche geradezu glauben, der Menſch, wenigſtens der Curgaſt, könne von Luft allein leben, und deshalb ihr Dichten und Trachten darauf richten, alle nährenden Beſtandtheile aus den Speiſen zu entfernen. Es wird geſtritten, ob dies auf Rechnung der Viehſeuchen und der allgemeinen Preiserhöhung der Lebensmittel oder der geſteigerten Habgier der Wirthe zu ſchreiben ſei. Ich könnte eine lange Reihe von Oertlichkeiten nennen, in welchen ehedem eine gute, nahrhafte Koſt zu finden war, und die erſt, ſeitdem ſie auch vielfach als Luftbäder dienen, die Auskochkunſt in höchſter Vollkommenheit betreiben, möchte deshalb die Urſache eher darin ſuchen, daß Badeärzte und Hausbeſitzer ſo viel von „unſrer herrlichen Luft“ und deren „an’s Wunderbare gren- zenden kräftigenden Wirkungen“ geſprochen haben, daß Wirthe und Garköche es für Pflicht halten, der „Erneuerung des Bluts“ nicht durch Verabreichung althergebrachter Nahrungs- ſtoffe entgegen zu arbeiten. So ſieht man denn jetzt häufig Gäſte bei Tiſche eine Büchſe mit Fleiſchextract neben ſich ſtellen und aus dieſer den Suppen und Saucen, noch bevor ſie gekoſtet haben, zuſetzen, denn ſie wiſſen im voraus, daß das Deficit mit derſelben Regelmäßigkeit wiederkehrt, wie im öſterreichiſchen und franzöſiſchen Finanzbudget. Die Speiſen betrachten ſie nicht als Nahrungsmittel, ſondern nur als Vehikel für die aus der münchener Hofapotheke bezogene Latwerge.

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/149>, abgerufen am 24.11.2024.