Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.V. Culturgeschichtliches -- Sommerfrischen. sorgloses Völkchen, von rührender Anspruchslosigkeit in Geld-sachen, sehr unähnlich jenen Händlern und Jodlern, die in der ganzen Welt umherziehen, sie duzen, ihre Brüderlichkeit und Gemüthlichkeit aber hierbei bewenden lassen. Die An- wesenheit des Malers geht nicht vorüber ohne verfeinernde Einflüsse. Von ihm lernt die Wirthin, deren Bildniß er mit Kohle auf die Wand gezeichnet hat, daß eine wollene Pferdedecke in einen Leinenüberzug genäht, dem Bette zum Vortheil gereicht, daß der Strohsack darunter nicht so gebirgig sein muß, wie das Land umher, und mehr dergleichen Einzel- heiten des höheren Raffinements. Der heimgekehrte Maler erzählt in seiner Stammkneipe von den Reizen und der Wohl- feilheit des Lebens in Sanct X, einer seiner literarischen Freunde sucht den Ort auf und schildert ihn in einer Zeitung, darauf hin finden sich neue Besucher ein, welche andere in den folgenden Jahren nachziehen. Mittlerweile züngelt die Cultur weiter und weiter, binnen fünf Jahren sind zwei lebensgefährliche Treppenstufen ausgebessert, auch die Wirths- leute haben gelernt, lesen und schreiben zwar noch nicht, wohl aber rechnen. Jener Nagel des Engländers war der erste zum Sarge ihrer Herzenseinfalt. Schon kommt es vor, daß sie gleich zum ersten Male einen nicht in ihrer Mundart ausgedrückten Satz verstehen. Schwieriger ist die Ver- ständigung freilich, wenn es sich um große Unternehmungen handelt, wie z. B. Errichtung einer Laube im Obstgarten, oder um Beseitigung eines Balkens, an welchem sich seit Menschengedenken alle Erwachsenen, die im Hause über- nachteten, bei ihrem ersten Ausgang am nächsten Morgen die Stirn blutig gestoßen haben. In der That scheint der Gedanke in jenem rauhen, steilen V. Culturgeſchichtliches — Sommerfriſchen. ſorgloſes Völkchen, von rührender Anſpruchsloſigkeit in Geld-ſachen, ſehr unähnlich jenen Händlern und Jodlern, die in der ganzen Welt umherziehen, ſie duzen, ihre Brüderlichkeit und Gemüthlichkeit aber hierbei bewenden laſſen. Die An- weſenheit des Malers geht nicht vorüber ohne verfeinernde Einflüſſe. Von ihm lernt die Wirthin, deren Bildniß er mit Kohle auf die Wand gezeichnet hat, daß eine wollene Pferdedecke in einen Leinenüberzug genäht, dem Bette zum Vortheil gereicht, daß der Strohſack darunter nicht ſo gebirgig ſein muß, wie das Land umher, und mehr dergleichen Einzel- heiten des höheren Raffinements. Der heimgekehrte Maler erzählt in ſeiner Stammkneipe von den Reizen und der Wohl- feilheit des Lebens in Sanct X, einer ſeiner literariſchen Freunde ſucht den Ort auf und ſchildert ihn in einer Zeitung, darauf hin finden ſich neue Beſucher ein, welche andere in den folgenden Jahren nachziehen. Mittlerweile züngelt die Cultur weiter und weiter, binnen fünf Jahren ſind zwei lebensgefährliche Treppenſtufen ausgebeſſert, auch die Wirths- leute haben gelernt, leſen und ſchreiben zwar noch nicht, wohl aber rechnen. Jener Nagel des Engländers war der erſte zum Sarge ihrer Herzenseinfalt. Schon kommt es vor, daß ſie gleich zum erſten Male einen nicht in ihrer Mundart ausgedrückten Satz verſtehen. Schwieriger iſt die Ver- ſtändigung freilich, wenn es ſich um große Unternehmungen handelt, wie z. B. Errichtung einer Laube im Obſtgarten, oder um Beſeitigung eines Balkens, an welchem ſich ſeit Menſchengedenken alle Erwachſenen, die im Hauſe über- nachteten, bei ihrem erſten Ausgang am nächſten Morgen die Stirn blutig geſtoßen haben. In der That ſcheint der Gedanke in jenem rauhen, ſteilen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0123" n="109"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> Culturgeſchichtliches — Sommerfriſchen.</fw><lb/> ſorgloſes Völkchen, von rührender Anſpruchsloſigkeit in Geld-<lb/> ſachen, ſehr unähnlich jenen Händlern und Jodlern, die in<lb/> der ganzen Welt umherziehen, ſie duzen, ihre Brüderlichkeit<lb/> und Gemüthlichkeit aber hierbei bewenden laſſen. Die An-<lb/> weſenheit des Malers geht nicht vorüber ohne verfeinernde<lb/> Einflüſſe. 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V. Culturgeſchichtliches — Sommerfriſchen.
ſorgloſes Völkchen, von rührender Anſpruchsloſigkeit in Geld-
ſachen, ſehr unähnlich jenen Händlern und Jodlern, die in
der ganzen Welt umherziehen, ſie duzen, ihre Brüderlichkeit
und Gemüthlichkeit aber hierbei bewenden laſſen. Die An-
weſenheit des Malers geht nicht vorüber ohne verfeinernde
Einflüſſe. Von ihm lernt die Wirthin, deren Bildniß er
mit Kohle auf die Wand gezeichnet hat, daß eine wollene
Pferdedecke in einen Leinenüberzug genäht, dem Bette zum
Vortheil gereicht, daß der Strohſack darunter nicht ſo gebirgig
ſein muß, wie das Land umher, und mehr dergleichen Einzel-
heiten des höheren Raffinements. Der heimgekehrte Maler
erzählt in ſeiner Stammkneipe von den Reizen und der Wohl-
feilheit des Lebens in Sanct X, einer ſeiner literariſchen
Freunde ſucht den Ort auf und ſchildert ihn in einer Zeitung,
darauf hin finden ſich neue Beſucher ein, welche andere in
den folgenden Jahren nachziehen. Mittlerweile züngelt die
Cultur weiter und weiter, binnen fünf Jahren ſind zwei
lebensgefährliche Treppenſtufen ausgebeſſert, auch die Wirths-
leute haben gelernt, leſen und ſchreiben zwar noch nicht, wohl
aber rechnen. Jener Nagel des Engländers war der erſte
zum Sarge ihrer Herzenseinfalt. Schon kommt es vor, daß
ſie gleich zum erſten Male einen nicht in ihrer Mundart
ausgedrückten Satz verſtehen. Schwieriger iſt die Ver-
ſtändigung freilich, wenn es ſich um große Unternehmungen
handelt, wie z. B. Errichtung einer Laube im Obſtgarten,
oder um Beſeitigung eines Balkens, an welchem ſich ſeit
Menſchengedenken alle Erwachſenen, die im Hauſe über-
nachteten, bei ihrem erſten Ausgang am nächſten Morgen
die Stirn blutig geſtoßen haben.
In der That ſcheint der Gedanke in jenem rauhen, ſteilen
Hochgebirg eben ſo mühevoll und langſam als der Wanderfuß
fortzuſchreiten. Michelet nennt die Gebirge die Klöſter des
Geiſtes. Trotzdem dürfen wir Touriſten nicht müde werden,
Saatkörner der Erkenntniß auszuſtreuen, einzelne werden
ſchon aufgehen. Die Langſamkeit, mit der dies zu geſchehen
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