Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.V. Der neue Souverän -- Luftcurorte und Mineralquellen. galten, keine sind, und daß bei den althergebrachten Methodendie Apotheker besser als die Kranken gedeihen. So gewöhnt man sich, Genesung weniger in Büchsen, Kästen und Gläsern mit lateinischen Aufschriften zu suchen, als dort, wo alle jene Kräuter und Wurzeln wuchsen: in der freien Natur, in Feld und Flur, Gebirg und Wald. Die materia medica schrumpft zusammen, ihr größter Theil verflüchtigt sich, hat sich bereits aufgelöst in -- Luft. Der enge Kreis der "souveränen" Heilmittel hat sich diesem Parvenü von gestern öffnen, wie zu Anfang unsres Jahrhunderts Kaiser und Könige sich haben entschließen müssen, einen Emporkömmling als ihres Gleichen, ja als primus inter pares anzuerkennen und Familien- verbindungen mit ihm sich zur Ehre zu schätzen. An der Wiege des Neugeborenen standen die Allopathen, Homöopathen, Hydropathen, blickten scheel auf einander, konnten ihm aber ihren Segen nicht vorenthalten. Wer weiß, ob nicht ihre Eifersucht erregt worden wäre, wenn die Eltern dem Kinde einen gelehrten griechischen Namen gegeben hätten, z. B. Aeropathie. Das thaten sie aber klüglich nicht, sondern gaben gar keinen Namen, ließen ihn vielmehr in der Luft schweben. So wuchs das Kind unvermerkt empor zum Mann und zum Eroberer. Rastlos wie der alte Napoleon, ist auch der Dynast neuesten Datums, gleichfalls Sohn der Revolution (in der Medicin), geschäftig, neue Throne für sich und die Seinigen aufzurichten: jedes Jahr treten neue Oertlichkeiten in die Reihe der Heilbäder, die ihre Legitimation nicht auf Mineral- quellen gründen, sondern lediglich oder doch vorzugsweise auf gute Luft (in der Schweiz allein zählt man schon jetzt beinahe 200 Luftcurorte), nebenbei erwähnend, daß sie auch mit andern Curmitteln, wie den und den Mineralwässern, natür- lichen und künstlichen, Kaltwasser, Molken, Trauben, Erd- beeren, Kräutersäften, Inhalations-, pneumatischen, elektri- schen Apparaten, Sool-, Malz-, Kleien-, Mutterlaugen-, Loh-, Kalk-, Kiefernadel- und Moorbädern, römischen und russischen Dampfbädern, schwedischer und Schreber'scher Heil- V. Der neue Souverän — Luftcurorte und Mineralquellen. galten, keine ſind, und daß bei den althergebrachten Methodendie Apotheker beſſer als die Kranken gedeihen. So gewöhnt man ſich, Geneſung weniger in Büchſen, Käſten und Gläſern mit lateiniſchen Aufſchriften zu ſuchen, als dort, wo alle jene Kräuter und Wurzeln wuchſen: in der freien Natur, in Feld und Flur, Gebirg und Wald. Die materia medica ſchrumpft zuſammen, ihr größter Theil verflüchtigt ſich, hat ſich bereits aufgelöſt in — Luft. Der enge Kreis der „ſouveränen“ Heilmittel hat ſich dieſem Parvenü von geſtern öffnen, wie zu Anfang unſres Jahrhunderts Kaiſer und Könige ſich haben entſchließen müſſen, einen Emporkömmling als ihres Gleichen, ja als primus inter pares anzuerkennen und Familien- verbindungen mit ihm ſich zur Ehre zu ſchätzen. An der Wiege des Neugeborenen ſtanden die Allopathen, Homöopathen, Hydropathen, blickten ſcheel auf einander, konnten ihm aber ihren Segen nicht vorenthalten. Wer weiß, ob nicht ihre Eiferſucht erregt worden wäre, wenn die Eltern dem Kinde einen gelehrten griechiſchen Namen gegeben hätten, z. B. Aëropathie. Das thaten ſie aber klüglich nicht, ſondern gaben gar keinen Namen, ließen ihn vielmehr in der Luft ſchweben. So wuchs das Kind unvermerkt empor zum Mann und zum Eroberer. Raſtlos wie der alte Napoleon, iſt auch der Dynaſt neueſten Datums, gleichfalls Sohn der Revolution (in der Medicin), geſchäftig, neue Throne für ſich und die Seinigen aufzurichten: jedes Jahr treten neue Oertlichkeiten in die Reihe der Heilbäder, die ihre Legitimation nicht auf Mineral- quellen gründen, ſondern lediglich oder doch vorzugsweiſe auf gute Luft (in der Schweiz allein zählt man ſchon jetzt beinahe 200 Luftcurorte), nebenbei erwähnend, daß ſie auch mit andern Curmitteln, wie den und den Mineralwäſſern, natür- lichen und künſtlichen, Kaltwaſſer, Molken, Trauben, Erd- beeren, Kräuterſäften, Inhalations-, pneumatiſchen, elektri- ſchen Apparaten, Sool-, Malz-, Kleien-, Mutterlaugen-, Loh-, Kalk-, Kiefernadel- und Moorbädern, römiſchen und ruſſiſchen Dampfbädern, ſchwediſcher und Schreber’ſcher Heil- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0116" n="102"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> Der neue Souverän — Luftcurorte und Mineralquellen.</fw><lb/> galten, keine ſind, und daß bei den althergebrachten Methoden<lb/> die Apotheker beſſer als die Kranken gedeihen. 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V. Der neue Souverän — Luftcurorte und Mineralquellen.
galten, keine ſind, und daß bei den althergebrachten Methoden
die Apotheker beſſer als die Kranken gedeihen. So gewöhnt
man ſich, Geneſung weniger in Büchſen, Käſten und Gläſern
mit lateiniſchen Aufſchriften zu ſuchen, als dort, wo alle jene
Kräuter und Wurzeln wuchſen: in der freien Natur, in Feld
und Flur, Gebirg und Wald. Die materia medica ſchrumpft
zuſammen, ihr größter Theil verflüchtigt ſich, hat ſich bereits
aufgelöſt in — Luft. Der enge Kreis der „ſouveränen“
Heilmittel hat ſich dieſem Parvenü von geſtern öffnen, wie zu
Anfang unſres Jahrhunderts Kaiſer und Könige ſich haben
entſchließen müſſen, einen Emporkömmling als ihres Gleichen,
ja als primus inter pares anzuerkennen und Familien-
verbindungen mit ihm ſich zur Ehre zu ſchätzen. An der
Wiege des Neugeborenen ſtanden die Allopathen, Homöopathen,
Hydropathen, blickten ſcheel auf einander, konnten ihm aber
ihren Segen nicht vorenthalten. Wer weiß, ob nicht ihre
Eiferſucht erregt worden wäre, wenn die Eltern dem Kinde
einen gelehrten griechiſchen Namen gegeben hätten, z. B.
Aëropathie. Das thaten ſie aber klüglich nicht, ſondern gaben
gar keinen Namen, ließen ihn vielmehr in der Luft ſchweben.
So wuchs das Kind unvermerkt empor zum Mann und zum
Eroberer. Raſtlos wie der alte Napoleon, iſt auch der Dynaſt
neueſten Datums, gleichfalls Sohn der Revolution (in der
Medicin), geſchäftig, neue Throne für ſich und die Seinigen
aufzurichten: jedes Jahr treten neue Oertlichkeiten in die
Reihe der Heilbäder, die ihre Legitimation nicht auf Mineral-
quellen gründen, ſondern lediglich oder doch vorzugsweiſe auf
gute Luft (in der Schweiz allein zählt man ſchon jetzt beinahe
200 Luftcurorte), nebenbei erwähnend, daß ſie auch mit
andern Curmitteln, wie den und den Mineralwäſſern, natür-
lichen und künſtlichen, Kaltwaſſer, Molken, Trauben, Erd-
beeren, Kräuterſäften, Inhalations-, pneumatiſchen, elektri-
ſchen Apparaten, Sool-, Malz-, Kleien-, Mutterlaugen-,
Loh-, Kalk-, Kiefernadel- und Moorbädern, römiſchen und
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