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Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

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Volke die Ader unter dem Herzen -- die Hauptstadt -- Monate
lang, und so ganz unnöthiger Weise, zu unterbinden, und dann
noch gesunden Blutumlauf von ihm zu verlangen? Aber so zer-
klüftet sich das Rechtsbewußtsein in einem Volke, wenn ihm von
Oben her der Rechtsboden unter den Füßen fortgezogen wird,
daß seine Rechtsgelehrten selbst gegen das klare Gesetz handeln.
Denn während nach §. 9. des Gesetzes zum Schutze der persön-
lichen Freiheit "keine vorgängige Genehmigung der Behörde nöthig
ist, um öffentliche Civil- und Militair-Beamte wegen der durch
Ueberschreitung ihrer Amtsbefugnisse verübten Verletzungen vor-
stehender Bestimmungen gerichtlich zu belangen," wollte der Staats-
anwalt die Anklage von der Genehmigung der höheren Behörde --
höher, als das Ministerium? -- abhängig machen, und berief
sich dafür auf das Gesetz vom 29. März 1844, als ob dies
schon vom Vereinigten Landtage gemißbilligte Gesetz nicht nun-
mehr durch jenen Paragraphen des Gesetzes vom 24. September
vollständig und ausdrücklich, in diesem Punkte wenigstens, außer
Kraft getreten wäre. Und wohin soll es mit der Unparteilichkeit
unserer Gerichte kommen, wenn der Unterschied in den staatlichen
Ansichten die Mehrheit berechtigen sollte, ein Mitglied aus ihrem
Schooße auszustoßen, wie das Geheime Ober-Tribunal es mit
Waldeck versuchte?

Man sage nicht, die Volksvertretung habe das Unrecht be-
gonnen, indem sie nach dem Vertagungs-Befehl nicht auseinan-
der gegangen, und sich dadurch, wie der Minister ihr vorwarf,
Hoheitsrechte angemaßt habe. Denn das ist ein Kreisschluß.
Die Versammlung hatte nur Unrecht, wenn die Krone das Recht
der Vertagung hatte. Ob die Krone aber ein Recht zu diesem
Befehle gehabt, ist um so zweifelhafter, als eben diese und andere
Rechte des Volks und der Krone durch Vereinbarung -- offen-
bar ein Hoheits-Recht -- erst festgesetzt werden sollten,
und die Versammlung über die Verlegung und Vertagung
mindestens zu hören gewesen wäre. Denn wäre es vor der
Gründung der Verfassung und zwar der Gründung einzig und
allein durch diese dazu nach dem Gesetz vom 8. April 1848 beru-
fene Versammlung der Krone erlaubt, die Versammlung auf drei
Wochen und nach Brandenburg zu verlegen, so konnte sie auch

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Volke die Ader unter dem Herzen — die Hauptſtadt — Monate
lang, und ſo ganz unnöthiger Weiſe, zu unterbinden, und dann
noch geſunden Blutumlauf von ihm zu verlangen? Aber ſo zer-
klüftet ſich das Rechtsbewußtſein in einem Volke, wenn ihm von
Oben her der Rechtsboden unter den Füßen fortgezogen wird,
daß ſeine Rechtsgelehrten ſelbſt gegen das klare Geſetz handeln.
Denn während nach §. 9. des Geſetzes zum Schutze der perſön-
lichen Freiheit „keine vorgängige Genehmigung der Behörde nöthig
iſt, um öffentliche Civil- und Militair-Beamte wegen der durch
Ueberſchreitung ihrer Amtsbefugniſſe verübten Verletzungen vor-
ſtehender Beſtimmungen gerichtlich zu belangen,‟ wollte der Staats-
anwalt die Anklage von der Genehmigung der höheren Behörde —
höher, als das Miniſterium? — abhängig machen, und berief
ſich dafür auf das Geſetz vom 29. März 1844, als ob dies
ſchon vom Vereinigten Landtage gemißbilligte Geſetz nicht nun-
mehr durch jenen Paragraphen des Geſetzes vom 24. September
vollſtändig und ausdrücklich, in dieſem Punkte wenigſtens, außer
Kraft getreten wäre. Und wohin ſoll es mit der Unparteilichkeit
unſerer Gerichte kommen, wenn der Unterſchied in den ſtaatlichen
Anſichten die Mehrheit berechtigen ſollte, ein Mitglied aus ihrem
Schooße auszuſtoßen, wie das Geheime Ober-Tribunal es mit
Waldeck verſuchte?

Man ſage nicht, die Volksvertretung habe das Unrecht be-
gonnen, indem ſie nach dem Vertagungs-Befehl nicht auseinan-
der gegangen, und ſich dadurch, wie der Miniſter ihr vorwarf,
Hoheitsrechte angemaßt habe. Denn das iſt ein Kreisſchluß.
Die Verſammlung hatte nur Unrecht, wenn die Krone das Recht
der Vertagung hatte. Ob die Krone aber ein Recht zu dieſem
Befehle gehabt, iſt um ſo zweifelhafter, als eben dieſe und andere
Rechte des Volks und der Krone durch Vereinbarung — offen-
bar ein Hoheits-Recht — erſt feſtgeſetzt werden ſollten,
und die Verſammlung über die Verlegung und Vertagung
mindeſtens zu hören geweſen wäre. Denn wäre es vor der
Gründung der Verfaſſung und zwar der Gründung einzig und
allein durch dieſe dazu nach dem Geſetz vom 8. April 1848 beru-
fene Verſammlung der Krone erlaubt, die Verſammlung auf drei
Wochen und nach Brandenburg zu verlegen, ſo konnte ſie auch

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[17/0027] Volke die Ader unter dem Herzen — die Hauptſtadt — Monate lang, und ſo ganz unnöthiger Weiſe, zu unterbinden, und dann noch geſunden Blutumlauf von ihm zu verlangen? Aber ſo zer- klüftet ſich das Rechtsbewußtſein in einem Volke, wenn ihm von Oben her der Rechtsboden unter den Füßen fortgezogen wird, daß ſeine Rechtsgelehrten ſelbſt gegen das klare Geſetz handeln. Denn während nach §. 9. des Geſetzes zum Schutze der perſön- lichen Freiheit „keine vorgängige Genehmigung der Behörde nöthig iſt, um öffentliche Civil- und Militair-Beamte wegen der durch Ueberſchreitung ihrer Amtsbefugniſſe verübten Verletzungen vor- ſtehender Beſtimmungen gerichtlich zu belangen,‟ wollte der Staats- anwalt die Anklage von der Genehmigung der höheren Behörde — höher, als das Miniſterium? — abhängig machen, und berief ſich dafür auf das Geſetz vom 29. März 1844, als ob dies ſchon vom Vereinigten Landtage gemißbilligte Geſetz nicht nun- mehr durch jenen Paragraphen des Geſetzes vom 24. September vollſtändig und ausdrücklich, in dieſem Punkte wenigſtens, außer Kraft getreten wäre. Und wohin ſoll es mit der Unparteilichkeit unſerer Gerichte kommen, wenn der Unterſchied in den ſtaatlichen Anſichten die Mehrheit berechtigen ſollte, ein Mitglied aus ihrem Schooße auszuſtoßen, wie das Geheime Ober-Tribunal es mit Waldeck verſuchte? Man ſage nicht, die Volksvertretung habe das Unrecht be- gonnen, indem ſie nach dem Vertagungs-Befehl nicht auseinan- der gegangen, und ſich dadurch, wie der Miniſter ihr vorwarf, Hoheitsrechte angemaßt habe. Denn das iſt ein Kreisſchluß. Die Verſammlung hatte nur Unrecht, wenn die Krone das Recht der Vertagung hatte. Ob die Krone aber ein Recht zu dieſem Befehle gehabt, iſt um ſo zweifelhafter, als eben dieſe und andere Rechte des Volks und der Krone durch Vereinbarung — offen- bar ein Hoheits-Recht — erſt feſtgeſetzt werden ſollten, und die Verſammlung über die Verlegung und Vertagung mindeſtens zu hören geweſen wäre. Denn wäre es vor der Gründung der Verfaſſung und zwar der Gründung einzig und allein durch dieſe dazu nach dem Geſetz vom 8. April 1848 beru- fene Verſammlung der Krone erlaubt, die Verſammlung auf drei Wochen und nach Brandenburg zu verlegen, ſo konnte ſie auch 2

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Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/27>, abgerufen am 21.11.2024.