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Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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hagen hin, als ob er heute die Polizeistunde nicht zu beachten gedächte.

Tobias ging bis zum Hause des Webers. Die Fenster waren dunkel -- die Leute zu Bette. Da er noch Zeit herumzubringen hatte, so folgte er einem Gelüsten, das plötzlich in ihm aufgestiegen war. Er ging ums Haus und stieg über den niedern Zaun in den Garten, auf welchen das Kammerfenster der Sibylle hinaus ging. Hier war noch Licht. Der Bursche näherte sich demselben bis auf einige Schritte, blieb dann stehen und weidete sich an der Möglichkeit, etwas thun zu können, was er zu unterlassen entschlossen war. Du gute Sibylle, dachte er: dir könnte ich eine Freude machen -- wenn ich möcht'! Aber Jeder ist sich selbst der Nächste. -- Das Licht erlosch. Sie geht zu Bett, sagte er zu sich. Nun, sie mag schlafen! -- Er ging vorsichtig zurück, stieg auf den Wasen hinaus und schlug den Weg ein, der zum Pfarrhaus führte.

Auf dem Gang zur Sibylle war er ruhig; als er aber langsam dem Ziel des Abends entgegenwandelte, fing sein Herz an zu schlagen. Er verwunderte sich über die erneuerte Bangigkeit, wo er doch ganz entschlossen gewesen war, und ärgerte sich darüber; aber das bewirkte nicht, daß sie nachließ. Das Herzklopfen und Beben dauerte fort und gerieth in einen Gang, als ob es heute nicht leicht mehr aufhören wollte. Am Zaun des Pfarrhofes angekommen, machte er Halt und verlor sich wartend in dumpfes Sinnen. Auf einmal schlug

hagen hin, als ob er heute die Polizeistunde nicht zu beachten gedächte.

Tobias ging bis zum Hause des Webers. Die Fenster waren dunkel — die Leute zu Bette. Da er noch Zeit herumzubringen hatte, so folgte er einem Gelüsten, das plötzlich in ihm aufgestiegen war. Er ging ums Haus und stieg über den niedern Zaun in den Garten, auf welchen das Kammerfenster der Sibylle hinaus ging. Hier war noch Licht. Der Bursche näherte sich demselben bis auf einige Schritte, blieb dann stehen und weidete sich an der Möglichkeit, etwas thun zu können, was er zu unterlassen entschlossen war. Du gute Sibylle, dachte er: dir könnte ich eine Freude machen — wenn ich möcht'! Aber Jeder ist sich selbst der Nächste. — Das Licht erlosch. Sie geht zu Bett, sagte er zu sich. Nun, sie mag schlafen! — Er ging vorsichtig zurück, stieg auf den Wasen hinaus und schlug den Weg ein, der zum Pfarrhaus führte.

Auf dem Gang zur Sibylle war er ruhig; als er aber langsam dem Ziel des Abends entgegenwandelte, fing sein Herz an zu schlagen. Er verwunderte sich über die erneuerte Bangigkeit, wo er doch ganz entschlossen gewesen war, und ärgerte sich darüber; aber das bewirkte nicht, daß sie nachließ. Das Herzklopfen und Beben dauerte fort und gerieth in einen Gang, als ob es heute nicht leicht mehr aufhören wollte. Am Zaun des Pfarrhofes angekommen, machte er Halt und verlor sich wartend in dumpfes Sinnen. Auf einmal schlug

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[0092] hagen hin, als ob er heute die Polizeistunde nicht zu beachten gedächte. Tobias ging bis zum Hause des Webers. Die Fenster waren dunkel — die Leute zu Bette. Da er noch Zeit herumzubringen hatte, so folgte er einem Gelüsten, das plötzlich in ihm aufgestiegen war. Er ging ums Haus und stieg über den niedern Zaun in den Garten, auf welchen das Kammerfenster der Sibylle hinaus ging. Hier war noch Licht. Der Bursche näherte sich demselben bis auf einige Schritte, blieb dann stehen und weidete sich an der Möglichkeit, etwas thun zu können, was er zu unterlassen entschlossen war. Du gute Sibylle, dachte er: dir könnte ich eine Freude machen — wenn ich möcht'! Aber Jeder ist sich selbst der Nächste. — Das Licht erlosch. Sie geht zu Bett, sagte er zu sich. Nun, sie mag schlafen! — Er ging vorsichtig zurück, stieg auf den Wasen hinaus und schlug den Weg ein, der zum Pfarrhaus führte. Auf dem Gang zur Sibylle war er ruhig; als er aber langsam dem Ziel des Abends entgegenwandelte, fing sein Herz an zu schlagen. Er verwunderte sich über die erneuerte Bangigkeit, wo er doch ganz entschlossen gewesen war, und ärgerte sich darüber; aber das bewirkte nicht, daß sie nachließ. Das Herzklopfen und Beben dauerte fort und gerieth in einen Gang, als ob es heute nicht leicht mehr aufhören wollte. Am Zaun des Pfarrhofes angekommen, machte er Halt und verlor sich wartend in dumpfes Sinnen. Auf einmal schlug

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:49:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:49:07Z)

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Zitationshilfe: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/92>, abgerufen am 20.05.2024.