Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Zeit bestand und in ihren Tugenden sich gleich blieb, so war das Gefallen wechselseitig. -- Kein Wunder, daß das Mädchen jetzt, wo sie den Schneider verloren hatte, wenigstens ihren guten Ruf und den Dienst zu behalten wünschte. Acht Tage vergingen, und sie bemerkte keine Aenderung in dem Betragen ihrer Herrschaft. Durch vielfache Erfahrung belehrt, wie derartige Vorgänge im Dorf aufzukommen pflegen, mußte sie diesmal im Punkte der Geheimhaltung an ein Wunder glauben. Das Wunder war allerdings geschehen; aber es hatte einen natürlichen Grund. Der alte Schneider, der nach dem Abgang der Bäbe das seinem Plan entgegenstehende Hinderniß weggeräumt sah, erkannte vor Allem die Nothwendigkeit, dafür zu sorgen, daß Tobias mit dem Mädchen nicht ins Geschrei komme, damit nicht zuletzt die Sibylle empfindlich wurde und von ihm abstand. Er untersagte dem Kasper und der Walpurg, die zur Waschung des Tobias heimgekommen war und ebenfalls eingeweiht werden mußte, das Ausplaudern der Geschichte mit harter Drohung, daß Beide sich hüteten, auch nur davon zu "schnaufen". -- Daß der Bursche selber und die Pfarrmagd die erlebte Schande für sich behalten würden, nahm der Alte mit Recht an; und auf diese Art geschah es, daß ein Skandal, so köstlich zu vernehmen und weiter zu verbreiten, wie ein vergrabener Schatz unbenutzt liegen blieb, und Dorf und Umgegend um die angenehmste Unterhaltung gebracht wurden. Zeit bestand und in ihren Tugenden sich gleich blieb, so war das Gefallen wechselseitig. — Kein Wunder, daß das Mädchen jetzt, wo sie den Schneider verloren hatte, wenigstens ihren guten Ruf und den Dienst zu behalten wünschte. Acht Tage vergingen, und sie bemerkte keine Aenderung in dem Betragen ihrer Herrschaft. Durch vielfache Erfahrung belehrt, wie derartige Vorgänge im Dorf aufzukommen pflegen, mußte sie diesmal im Punkte der Geheimhaltung an ein Wunder glauben. Das Wunder war allerdings geschehen; aber es hatte einen natürlichen Grund. Der alte Schneider, der nach dem Abgang der Bäbe das seinem Plan entgegenstehende Hinderniß weggeräumt sah, erkannte vor Allem die Nothwendigkeit, dafür zu sorgen, daß Tobias mit dem Mädchen nicht ins Geschrei komme, damit nicht zuletzt die Sibylle empfindlich wurde und von ihm abstand. Er untersagte dem Kasper und der Walpurg, die zur Waschung des Tobias heimgekommen war und ebenfalls eingeweiht werden mußte, das Ausplaudern der Geschichte mit harter Drohung, daß Beide sich hüteten, auch nur davon zu „schnaufen“. — Daß der Bursche selber und die Pfarrmagd die erlebte Schande für sich behalten würden, nahm der Alte mit Recht an; und auf diese Art geschah es, daß ein Skandal, so köstlich zu vernehmen und weiter zu verbreiten, wie ein vergrabener Schatz unbenutzt liegen blieb, und Dorf und Umgegend um die angenehmste Unterhaltung gebracht wurden. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <p><pb facs="#f0071"/> Zeit bestand und in ihren Tugenden sich gleich blieb, so war das Gefallen wechselseitig. — Kein Wunder, daß das Mädchen jetzt, wo sie den Schneider verloren hatte, wenigstens ihren guten Ruf und den Dienst zu behalten wünschte.</p><lb/> <p>Acht Tage vergingen, und sie bemerkte keine Aenderung in dem Betragen ihrer Herrschaft. Durch vielfache Erfahrung belehrt, wie derartige Vorgänge im Dorf aufzukommen pflegen, mußte sie diesmal im Punkte der Geheimhaltung an ein Wunder glauben. Das Wunder war allerdings geschehen; aber es hatte einen natürlichen Grund.</p><lb/> <p>Der alte Schneider, der nach dem Abgang der Bäbe das seinem Plan entgegenstehende Hinderniß weggeräumt sah, erkannte vor Allem die Nothwendigkeit, dafür zu sorgen, daß Tobias mit dem Mädchen nicht ins Geschrei komme, damit nicht zuletzt die Sibylle empfindlich wurde und von ihm abstand. Er untersagte dem Kasper und der Walpurg, die zur Waschung des Tobias heimgekommen war und ebenfalls eingeweiht werden mußte, das Ausplaudern der Geschichte mit harter Drohung, daß Beide sich hüteten, auch nur davon zu „schnaufen“. — Daß der Bursche selber und die Pfarrmagd die erlebte Schande für sich behalten würden, nahm der Alte mit Recht an; und auf diese Art geschah es, daß ein Skandal, so köstlich zu vernehmen und weiter zu verbreiten, wie ein vergrabener Schatz unbenutzt liegen blieb, und Dorf und Umgegend um die angenehmste Unterhaltung gebracht wurden.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0071]
Zeit bestand und in ihren Tugenden sich gleich blieb, so war das Gefallen wechselseitig. — Kein Wunder, daß das Mädchen jetzt, wo sie den Schneider verloren hatte, wenigstens ihren guten Ruf und den Dienst zu behalten wünschte.
Acht Tage vergingen, und sie bemerkte keine Aenderung in dem Betragen ihrer Herrschaft. Durch vielfache Erfahrung belehrt, wie derartige Vorgänge im Dorf aufzukommen pflegen, mußte sie diesmal im Punkte der Geheimhaltung an ein Wunder glauben. Das Wunder war allerdings geschehen; aber es hatte einen natürlichen Grund.
Der alte Schneider, der nach dem Abgang der Bäbe das seinem Plan entgegenstehende Hinderniß weggeräumt sah, erkannte vor Allem die Nothwendigkeit, dafür zu sorgen, daß Tobias mit dem Mädchen nicht ins Geschrei komme, damit nicht zuletzt die Sibylle empfindlich wurde und von ihm abstand. Er untersagte dem Kasper und der Walpurg, die zur Waschung des Tobias heimgekommen war und ebenfalls eingeweiht werden mußte, das Ausplaudern der Geschichte mit harter Drohung, daß Beide sich hüteten, auch nur davon zu „schnaufen“. — Daß der Bursche selber und die Pfarrmagd die erlebte Schande für sich behalten würden, nahm der Alte mit Recht an; und auf diese Art geschah es, daß ein Skandal, so köstlich zu vernehmen und weiter zu verbreiten, wie ein vergrabener Schatz unbenutzt liegen blieb, und Dorf und Umgegend um die angenehmste Unterhaltung gebracht wurden.
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