Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.immer ein Mädchen gewünscht, die nicht nur ausnehmend schön und angenehm, sondern auch bedeutend reich war, die er über Alles liebte, die ihn durchaus wollte, und von der auserwählt er alle seine Neider und Feinde und sogar seinen Vater, der ihn so sehr verkannte, tief beschämen konnte. Allein bis jetzt hatte sich eine Solche nicht gezeigt, und es war nicht viel Aussicht vorhanden, daß sie sich demnächst finden werde. In einzelnen Momenten stellte sich ihm nun der Gedanke dar, daß er am Ende gar keine kriegen könne! Und in dem bänglichen Gefühl, welches diese Vorstellung in ihm erweckte, mußte Jede gewinnen, die, von andern Eigenschaften abgesehen, mindestens den Vortheil hatte, daß sie Eine war. Als er sechs Wochen ins fünfundzwanzigste Jahr ging, sah es aus, als ob just das geschehen sollte, was von Allem das Unwahrscheinlichste gewesen war. Seine Gutmüthigkeit hatte dem Schneider einen Streich gespielt. Bei einem Geschäftsbesuch, den er im Hause des Webers machte, hatte Sibylle die Wünsche ihres Herzens wieder so deutlich merken lassen und ihn dabei mit ihrem halb männlichen Gesicht so weiblich verlangend angesehen, daß er, geschmeichelt und gerührt, den Blick viel freundlicher erwiderte, als er's je für möglich gehalten hätte. Ihre Hoffnungen wurden dadurch ungemein belebt und traten im Lauf des Gesprächs in einer Anspielung hervor, die Niemand mißverstehen konnte. Ein zufällig Anwesender theilte seine Vermuthung bei der nächsten Gelegenheit dem alten Eber mit, und dieser fand die Sache nicht immer ein Mädchen gewünscht, die nicht nur ausnehmend schön und angenehm, sondern auch bedeutend reich war, die er über Alles liebte, die ihn durchaus wollte, und von der auserwählt er alle seine Neider und Feinde und sogar seinen Vater, der ihn so sehr verkannte, tief beschämen konnte. Allein bis jetzt hatte sich eine Solche nicht gezeigt, und es war nicht viel Aussicht vorhanden, daß sie sich demnächst finden werde. In einzelnen Momenten stellte sich ihm nun der Gedanke dar, daß er am Ende gar keine kriegen könne! Und in dem bänglichen Gefühl, welches diese Vorstellung in ihm erweckte, mußte Jede gewinnen, die, von andern Eigenschaften abgesehen, mindestens den Vortheil hatte, daß sie Eine war. Als er sechs Wochen ins fünfundzwanzigste Jahr ging, sah es aus, als ob just das geschehen sollte, was von Allem das Unwahrscheinlichste gewesen war. Seine Gutmüthigkeit hatte dem Schneider einen Streich gespielt. Bei einem Geschäftsbesuch, den er im Hause des Webers machte, hatte Sibylle die Wünsche ihres Herzens wieder so deutlich merken lassen und ihn dabei mit ihrem halb männlichen Gesicht so weiblich verlangend angesehen, daß er, geschmeichelt und gerührt, den Blick viel freundlicher erwiderte, als er's je für möglich gehalten hätte. Ihre Hoffnungen wurden dadurch ungemein belebt und traten im Lauf des Gesprächs in einer Anspielung hervor, die Niemand mißverstehen konnte. Ein zufällig Anwesender theilte seine Vermuthung bei der nächsten Gelegenheit dem alten Eber mit, und dieser fand die Sache nicht <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0024"/> immer ein Mädchen gewünscht, die nicht nur ausnehmend schön und angenehm, sondern auch bedeutend reich war, die er über Alles liebte, die ihn durchaus wollte, und von der auserwählt er alle seine Neider und Feinde und sogar seinen Vater, der ihn so sehr verkannte, tief beschämen konnte. Allein bis jetzt hatte sich eine Solche nicht gezeigt, und es war nicht viel Aussicht vorhanden, daß sie sich demnächst finden werde. In einzelnen Momenten stellte sich ihm nun der Gedanke dar, daß er am Ende gar keine kriegen könne! Und in dem bänglichen Gefühl, welches diese Vorstellung in ihm erweckte, mußte Jede gewinnen, die, von andern Eigenschaften abgesehen, mindestens den Vortheil hatte, daß sie Eine war.</p><lb/> <p>Als er sechs Wochen ins fünfundzwanzigste Jahr ging, sah es aus, als ob just das geschehen sollte, was von Allem das Unwahrscheinlichste gewesen war. Seine Gutmüthigkeit hatte dem Schneider einen Streich gespielt. Bei einem Geschäftsbesuch, den er im Hause des Webers machte, hatte Sibylle die Wünsche ihres Herzens wieder so deutlich merken lassen und ihn dabei mit ihrem halb männlichen Gesicht so weiblich verlangend angesehen, daß er, geschmeichelt und gerührt, den Blick viel freundlicher erwiderte, als er's je für möglich gehalten hätte. Ihre Hoffnungen wurden dadurch ungemein belebt und traten im Lauf des Gesprächs in einer Anspielung hervor, die Niemand mißverstehen konnte. Ein zufällig Anwesender theilte seine Vermuthung bei der nächsten Gelegenheit dem alten Eber mit, und dieser fand die Sache nicht<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0024]
immer ein Mädchen gewünscht, die nicht nur ausnehmend schön und angenehm, sondern auch bedeutend reich war, die er über Alles liebte, die ihn durchaus wollte, und von der auserwählt er alle seine Neider und Feinde und sogar seinen Vater, der ihn so sehr verkannte, tief beschämen konnte. Allein bis jetzt hatte sich eine Solche nicht gezeigt, und es war nicht viel Aussicht vorhanden, daß sie sich demnächst finden werde. In einzelnen Momenten stellte sich ihm nun der Gedanke dar, daß er am Ende gar keine kriegen könne! Und in dem bänglichen Gefühl, welches diese Vorstellung in ihm erweckte, mußte Jede gewinnen, die, von andern Eigenschaften abgesehen, mindestens den Vortheil hatte, daß sie Eine war.
Als er sechs Wochen ins fünfundzwanzigste Jahr ging, sah es aus, als ob just das geschehen sollte, was von Allem das Unwahrscheinlichste gewesen war. Seine Gutmüthigkeit hatte dem Schneider einen Streich gespielt. Bei einem Geschäftsbesuch, den er im Hause des Webers machte, hatte Sibylle die Wünsche ihres Herzens wieder so deutlich merken lassen und ihn dabei mit ihrem halb männlichen Gesicht so weiblich verlangend angesehen, daß er, geschmeichelt und gerührt, den Blick viel freundlicher erwiderte, als er's je für möglich gehalten hätte. Ihre Hoffnungen wurden dadurch ungemein belebt und traten im Lauf des Gesprächs in einer Anspielung hervor, die Niemand mißverstehen konnte. Ein zufällig Anwesender theilte seine Vermuthung bei der nächsten Gelegenheit dem alten Eber mit, und dieser fand die Sache nicht
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Zitationshilfe: | Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/24>, abgerufen am 16.07.2024. |