Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.eines nicht unbegüterten Webers, die, in der Taufe Sibylle genannt, mit Tobias einen ungewöhnlichen Vornamen gemein hatte, sonst aber keine ungewöhnliche Eigenschaft besaß, es müßte denn die sein, daß bei einer etwas kurzen Statur die eine Schulter ein wenig mehr in die Höhe strebte als die andere. Ein reguläres Dorfgesicht mit einem regulären Bauernverstand, die sich beide durch entschiedene Einfachheit und eine gewisse Mannesähnlichkeit auszeichneten. So Eine konnte einen Tobias freilich nur um so weniger einnehmen, obwohl ihre Arbeitsamkeit und Sparsamkeit über allen Zweifel erhaben waren und der Alte ihr eine ganz annehmbare Aussteuer zu geben vermochte. Die gute Sibylle, die sich nach jahrelangem Hoffen und Bemühen keines Erfolges rühmen konnte, empfand dies in Augenblicken, wo die Besorgung des Hauswesens ihr Muße zum Nachdenken ließ, recht bitter, ließ sich aber nicht abhalten, ihrem Herzen mit erneuter Hoffnung zu schmeicheln. Unter solchen Erfahrungen und Beziehungen wurde Tobias vierundzwanzig Jahre alt. Trotz dem höhern Streben, das in ihm lag, war er stets im väterlichen Hause geblieben. Auf die Wanderung hatte er sich nicht begeben, weil der Vater ihn nicht entbehren konnte, und in die Reihen der Landesvertheidiger war er nicht eingetreten, weil er sich freigespielt hatte. Nun handelte es sich aber darum, an das Scheiden aus dem bisherigen Verbande gleichwohl zu denken: er mußte die Frage der künftigen Existenz ins Auge fassen. Das eines nicht unbegüterten Webers, die, in der Taufe Sibylle genannt, mit Tobias einen ungewöhnlichen Vornamen gemein hatte, sonst aber keine ungewöhnliche Eigenschaft besaß, es müßte denn die sein, daß bei einer etwas kurzen Statur die eine Schulter ein wenig mehr in die Höhe strebte als die andere. Ein reguläres Dorfgesicht mit einem regulären Bauernverstand, die sich beide durch entschiedene Einfachheit und eine gewisse Mannesähnlichkeit auszeichneten. So Eine konnte einen Tobias freilich nur um so weniger einnehmen, obwohl ihre Arbeitsamkeit und Sparsamkeit über allen Zweifel erhaben waren und der Alte ihr eine ganz annehmbare Aussteuer zu geben vermochte. Die gute Sibylle, die sich nach jahrelangem Hoffen und Bemühen keines Erfolges rühmen konnte, empfand dies in Augenblicken, wo die Besorgung des Hauswesens ihr Muße zum Nachdenken ließ, recht bitter, ließ sich aber nicht abhalten, ihrem Herzen mit erneuter Hoffnung zu schmeicheln. Unter solchen Erfahrungen und Beziehungen wurde Tobias vierundzwanzig Jahre alt. Trotz dem höhern Streben, das in ihm lag, war er stets im väterlichen Hause geblieben. Auf die Wanderung hatte er sich nicht begeben, weil der Vater ihn nicht entbehren konnte, und in die Reihen der Landesvertheidiger war er nicht eingetreten, weil er sich freigespielt hatte. Nun handelte es sich aber darum, an das Scheiden aus dem bisherigen Verbande gleichwohl zu denken: er mußte die Frage der künftigen Existenz ins Auge fassen. Das <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0022"/> eines nicht unbegüterten Webers, die, in der Taufe Sibylle genannt, mit Tobias einen ungewöhnlichen Vornamen gemein hatte, sonst aber keine ungewöhnliche Eigenschaft besaß, es müßte denn die sein, daß bei einer etwas kurzen Statur die eine Schulter ein wenig mehr in die Höhe strebte als die andere. Ein reguläres Dorfgesicht mit einem regulären Bauernverstand, die sich beide durch entschiedene Einfachheit und eine gewisse Mannesähnlichkeit auszeichneten. So Eine konnte einen Tobias freilich nur um so weniger einnehmen, obwohl ihre Arbeitsamkeit und Sparsamkeit über allen Zweifel erhaben waren und der Alte ihr eine ganz annehmbare Aussteuer zu geben vermochte. Die gute Sibylle, die sich nach jahrelangem Hoffen und Bemühen keines Erfolges rühmen konnte, empfand dies in Augenblicken, wo die Besorgung des Hauswesens ihr Muße zum Nachdenken ließ, recht bitter, ließ sich aber nicht abhalten, ihrem Herzen mit erneuter Hoffnung zu schmeicheln.</p><lb/> <p>Unter solchen Erfahrungen und Beziehungen wurde Tobias vierundzwanzig Jahre alt. Trotz dem höhern Streben, das in ihm lag, war er stets im väterlichen Hause geblieben. Auf die Wanderung hatte er sich nicht begeben, weil der Vater ihn nicht entbehren konnte, und in die Reihen der Landesvertheidiger war er nicht eingetreten, weil er sich freigespielt hatte. Nun handelte es sich aber darum, an das Scheiden aus dem bisherigen Verbande gleichwohl zu denken: er mußte die Frage der künftigen Existenz ins Auge fassen. Das<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0022]
eines nicht unbegüterten Webers, die, in der Taufe Sibylle genannt, mit Tobias einen ungewöhnlichen Vornamen gemein hatte, sonst aber keine ungewöhnliche Eigenschaft besaß, es müßte denn die sein, daß bei einer etwas kurzen Statur die eine Schulter ein wenig mehr in die Höhe strebte als die andere. Ein reguläres Dorfgesicht mit einem regulären Bauernverstand, die sich beide durch entschiedene Einfachheit und eine gewisse Mannesähnlichkeit auszeichneten. So Eine konnte einen Tobias freilich nur um so weniger einnehmen, obwohl ihre Arbeitsamkeit und Sparsamkeit über allen Zweifel erhaben waren und der Alte ihr eine ganz annehmbare Aussteuer zu geben vermochte. Die gute Sibylle, die sich nach jahrelangem Hoffen und Bemühen keines Erfolges rühmen konnte, empfand dies in Augenblicken, wo die Besorgung des Hauswesens ihr Muße zum Nachdenken ließ, recht bitter, ließ sich aber nicht abhalten, ihrem Herzen mit erneuter Hoffnung zu schmeicheln.
Unter solchen Erfahrungen und Beziehungen wurde Tobias vierundzwanzig Jahre alt. Trotz dem höhern Streben, das in ihm lag, war er stets im väterlichen Hause geblieben. Auf die Wanderung hatte er sich nicht begeben, weil der Vater ihn nicht entbehren konnte, und in die Reihen der Landesvertheidiger war er nicht eingetreten, weil er sich freigespielt hatte. Nun handelte es sich aber darum, an das Scheiden aus dem bisherigen Verbande gleichwohl zu denken: er mußte die Frage der künftigen Existenz ins Auge fassen. Das
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Zitationshilfe: | Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/22>, abgerufen am 16.07.2024. |