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Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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ihr Gemüth nicht sichtbar werden zu lassen. Die Frau stellte sich vor sie hin, sah sie an und begann: Nun, sagt dir dein Gewissen nichts? -- Mein Gewissen? entgegnete die Bäbe mit großer Verwunderung. -- Ich sollt's meinen, versetzte die Frau. Und mit strengem Ausdruck fuhr sie fort: Du hast gestern Nacht einen Burschen ins Pfarrhaus gelassen! Das Mädchen zuckte unmerklich, faßte sich aber im Moment und schien höchlich überrascht und schmerzlich befremdet zu sein. Mit der Miene einer unbegreiflich Angeklagten erwiderte sie: Frau Pfarrerin, wie können Sie denken -- -- Läugn' es nicht, unterbrach sie die Frau; ich weiß es! -- Noch hielt die Bäbe Stand. Die Sorge für den Geliebten und für ihr Verhältniß schien ihr eine viel höhere Pflicht zu sein als Aufrichtigkeit, und muthig antwortete sie: Ach, Frau Pfarrerin, das muß Ihnen geträumt haben! So wahr ich -- -- Schweig, sprach diese mit heftigerm Ton, und lüg nicht! Ich habe es durchs Schlüsselloch mit meinen eigenen Augen gesehen, wen du in deine Kammer getragen hast. -- Das machte freilich dem Läugnen und zunächst auch dem Reden ein Ende. Von Röthe übergossen, mit athmendem Busen, aber trotzdem noch mit einer gewissen Haltung stand die Entlarvte da und schwieg. Bekenn es, rief die Pfarrerin gebieterisch, mit leuchtenden Augen, -- oder du mußt mir im Augenblick aus dem Haus! --

Nun sah die Bäbe den Moment gekommen, wo die Versicherung der Unschuld nicht mehr am Ort, viel-

ihr Gemüth nicht sichtbar werden zu lassen. Die Frau stellte sich vor sie hin, sah sie an und begann: Nun, sagt dir dein Gewissen nichts? — Mein Gewissen? entgegnete die Bäbe mit großer Verwunderung. — Ich sollt's meinen, versetzte die Frau. Und mit strengem Ausdruck fuhr sie fort: Du hast gestern Nacht einen Burschen ins Pfarrhaus gelassen! Das Mädchen zuckte unmerklich, faßte sich aber im Moment und schien höchlich überrascht und schmerzlich befremdet zu sein. Mit der Miene einer unbegreiflich Angeklagten erwiderte sie: Frau Pfarrerin, wie können Sie denken — — Läugn' es nicht, unterbrach sie die Frau; ich weiß es! — Noch hielt die Bäbe Stand. Die Sorge für den Geliebten und für ihr Verhältniß schien ihr eine viel höhere Pflicht zu sein als Aufrichtigkeit, und muthig antwortete sie: Ach, Frau Pfarrerin, das muß Ihnen geträumt haben! So wahr ich — — Schweig, sprach diese mit heftigerm Ton, und lüg nicht! Ich habe es durchs Schlüsselloch mit meinen eigenen Augen gesehen, wen du in deine Kammer getragen hast. — Das machte freilich dem Läugnen und zunächst auch dem Reden ein Ende. Von Röthe übergossen, mit athmendem Busen, aber trotzdem noch mit einer gewissen Haltung stand die Entlarvte da und schwieg. Bekenn es, rief die Pfarrerin gebieterisch, mit leuchtenden Augen, — oder du mußt mir im Augenblick aus dem Haus! —

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[0122] ihr Gemüth nicht sichtbar werden zu lassen. Die Frau stellte sich vor sie hin, sah sie an und begann: Nun, sagt dir dein Gewissen nichts? — Mein Gewissen? entgegnete die Bäbe mit großer Verwunderung. — Ich sollt's meinen, versetzte die Frau. Und mit strengem Ausdruck fuhr sie fort: Du hast gestern Nacht einen Burschen ins Pfarrhaus gelassen! Das Mädchen zuckte unmerklich, faßte sich aber im Moment und schien höchlich überrascht und schmerzlich befremdet zu sein. Mit der Miene einer unbegreiflich Angeklagten erwiderte sie: Frau Pfarrerin, wie können Sie denken — — Läugn' es nicht, unterbrach sie die Frau; ich weiß es! — Noch hielt die Bäbe Stand. Die Sorge für den Geliebten und für ihr Verhältniß schien ihr eine viel höhere Pflicht zu sein als Aufrichtigkeit, und muthig antwortete sie: Ach, Frau Pfarrerin, das muß Ihnen geträumt haben! So wahr ich — — Schweig, sprach diese mit heftigerm Ton, und lüg nicht! Ich habe es durchs Schlüsselloch mit meinen eigenen Augen gesehen, wen du in deine Kammer getragen hast. — Das machte freilich dem Läugnen und zunächst auch dem Reden ein Ende. Von Röthe übergossen, mit athmendem Busen, aber trotzdem noch mit einer gewissen Haltung stand die Entlarvte da und schwieg. Bekenn es, rief die Pfarrerin gebieterisch, mit leuchtenden Augen, — oder du mußt mir im Augenblick aus dem Haus! — Nun sah die Bäbe den Moment gekommen, wo die Versicherung der Unschuld nicht mehr am Ort, viel-

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:49:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:49:07Z)

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Zitationshilfe: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/122>, abgerufen am 27.11.2024.