Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

gehen, und tappte und taumelte in seine Kammer. Nachdem er noch eine Weile schmerzlich athmend sein ganzes Elend empfunden hatte, erbarmte sich der Schlaf über ihn und tauchte ihn und sein Leid ins Meer der Bewußtlosigkeit.

VI.

Es giebt Menschen, denen Alles hingeht; sie wagen unbedenklich das Keckste, und es gelingt ihnen; sie greifen rücksichtslos durch, ohne sich im Geringsten um die Ansprüche Anderer zu kümmern, und werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Während ihre Überschreitungen ohne Ahndung bleiben, ist ihre Kühnheit zuletzt mit Genuß und Ruhm gekrönt. Müßten sie Strafe leiden, sie würden sich nichts daraus machen -- aber sie werden nicht gestraft; es ist, als ob sie einen Freibrief erhalten hätten oder die ausübende Macht der Gerechtigkeit Scheu trüge, sich mit ihnen einzulassen.

Andere dagegen verfolgt die Nemesis unerbittlich. Die geringste Abweichung von der Linie des Gesetzes wird gerächt; eine kleine Schelmerei wird als Vergehen, ja als Verbrechen behandelt; erdreisten sie sich aber einmal eines kühnern Wagnisses, dann wirft die Göttin, gleichsam empört über solche Anmaßung, ihre schärfsten Geschosse gegen sie und stürzt sie erbarmungslos in den Abgrund der Schmach und der Schmerzen. Und sie begnügt sich nicht mit der einmal verübten Rache; sie läßt

gehen, und tappte und taumelte in seine Kammer. Nachdem er noch eine Weile schmerzlich athmend sein ganzes Elend empfunden hatte, erbarmte sich der Schlaf über ihn und tauchte ihn und sein Leid ins Meer der Bewußtlosigkeit.

VI.

Es giebt Menschen, denen Alles hingeht; sie wagen unbedenklich das Keckste, und es gelingt ihnen; sie greifen rücksichtslos durch, ohne sich im Geringsten um die Ansprüche Anderer zu kümmern, und werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Während ihre Überschreitungen ohne Ahndung bleiben, ist ihre Kühnheit zuletzt mit Genuß und Ruhm gekrönt. Müßten sie Strafe leiden, sie würden sich nichts daraus machen — aber sie werden nicht gestraft; es ist, als ob sie einen Freibrief erhalten hätten oder die ausübende Macht der Gerechtigkeit Scheu trüge, sich mit ihnen einzulassen.

Andere dagegen verfolgt die Nemesis unerbittlich. Die geringste Abweichung von der Linie des Gesetzes wird gerächt; eine kleine Schelmerei wird als Vergehen, ja als Verbrechen behandelt; erdreisten sie sich aber einmal eines kühnern Wagnisses, dann wirft die Göttin, gleichsam empört über solche Anmaßung, ihre schärfsten Geschosse gegen sie und stürzt sie erbarmungslos in den Abgrund der Schmach und der Schmerzen. Und sie begnügt sich nicht mit der einmal verübten Rache; sie läßt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="chapter" n="3">
        <p><pb facs="#f0115"/>
gehen, und tappte und      taumelte in seine Kammer. Nachdem er noch eine Weile schmerzlich athmend sein ganzes Elend      empfunden hatte, erbarmte sich der Schlaf über ihn und tauchte ihn und sein Leid ins Meer der      Bewußtlosigkeit.</p><lb/>
      </div>
      <div type="chapter" n="4">
        <head>VI.</head>
        <p>Es giebt Menschen, denen Alles hingeht; sie wagen unbedenklich das Keckste, und es gelingt      ihnen; sie greifen rücksichtslos durch, ohne sich im Geringsten um die Ansprüche Anderer zu      kümmern, und werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Während ihre Überschreitungen ohne Ahndung      bleiben, ist ihre Kühnheit zuletzt mit Genuß und Ruhm gekrönt. Müßten sie Strafe leiden, sie      würden sich nichts daraus machen &#x2014; aber sie werden nicht gestraft; es ist, als ob sie einen      Freibrief erhalten hätten oder die ausübende Macht der Gerechtigkeit Scheu trüge, sich mit      ihnen einzulassen.</p><lb/>
        <p>Andere dagegen verfolgt die Nemesis unerbittlich. Die geringste Abweichung von der Linie des      Gesetzes wird gerächt; eine kleine Schelmerei wird als Vergehen, ja als Verbrechen behandelt;      erdreisten sie sich aber einmal eines kühnern Wagnisses, dann wirft die Göttin, gleichsam      empört über solche Anmaßung, ihre schärfsten Geschosse gegen sie und stürzt sie erbarmungslos      in den Abgrund der Schmach und der Schmerzen. Und sie begnügt sich nicht mit der einmal      verübten Rache; sie läßt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0115] gehen, und tappte und taumelte in seine Kammer. Nachdem er noch eine Weile schmerzlich athmend sein ganzes Elend empfunden hatte, erbarmte sich der Schlaf über ihn und tauchte ihn und sein Leid ins Meer der Bewußtlosigkeit. VI. Es giebt Menschen, denen Alles hingeht; sie wagen unbedenklich das Keckste, und es gelingt ihnen; sie greifen rücksichtslos durch, ohne sich im Geringsten um die Ansprüche Anderer zu kümmern, und werden nicht zur Rechenschaft gezogen. Während ihre Überschreitungen ohne Ahndung bleiben, ist ihre Kühnheit zuletzt mit Genuß und Ruhm gekrönt. Müßten sie Strafe leiden, sie würden sich nichts daraus machen — aber sie werden nicht gestraft; es ist, als ob sie einen Freibrief erhalten hätten oder die ausübende Macht der Gerechtigkeit Scheu trüge, sich mit ihnen einzulassen. Andere dagegen verfolgt die Nemesis unerbittlich. Die geringste Abweichung von der Linie des Gesetzes wird gerächt; eine kleine Schelmerei wird als Vergehen, ja als Verbrechen behandelt; erdreisten sie sich aber einmal eines kühnern Wagnisses, dann wirft die Göttin, gleichsam empört über solche Anmaßung, ihre schärfsten Geschosse gegen sie und stürzt sie erbarmungslos in den Abgrund der Schmach und der Schmerzen. Und sie begnügt sich nicht mit der einmal verübten Rache; sie läßt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:49:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:49:07Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (&#xa75b;): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/115
Zitationshilfe: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/115>, abgerufen am 20.05.2024.