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Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759.

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Thaten der Gnade. I. Stück.
haben glauben, hierdurch erwecken: mehr
für diejenige, die man unter die Todte,
Blinde oder Jrrende zählt, zu beten, und
für ihre Errettung dem HErrn nachzuge-
hen, als ein vermessen Urtheil über sie zu
sprechen, oder gar als Unreine und Heiden
wegzustossen. Wer bist du, o Mensch! der
du andere so gern richtest und verwirfest,
vor der Gnade gewesen, einer aus dem
grossen Haufen der Verlohrengehenden?
Hat nun die Liebe des Heylandes aus mit-
leidender Erbarmung dich ohne deine Wür-
digkeit, vor andern in einen bessern Zustand
gesetzet, ist nicht diese Liebe, ist nicht eben
diese Gnade vermögend, ja willig genug,
den, der noch weit hinter dir ist, in kurzer
Zeit dir nach, ja weit voraus zu bringen?
Wenn eine lebendige Erfahrung in deiner
Seele ist, was für eine grosse und unzähl-
bare Schuld dir dein Heyland aus unver-
dienter Gelindigkeit und Güte nachgelassen,
so weiß ich, du wirst nicht nur es deinem
Nächsten gönnen, wenn JEsus auch gegen
ihm gütig ist, sondern du wirst für ihn aus
Mitleiden um das gleiche Erbarmen an-
halten.

Es wurde hierauf unserer Seligen auf
eine liebreiche Weise gezeiget, wie höchst be-
trübt es seye, daß sie bis in ihr Alter auf
denen Wegen der Sünde in einem fortge-

gan-
C 4

Thaten der Gnade. I. Stuͤck.
haben glauben, hierdurch erwecken: mehr
fuͤr diejenige, die man unter die Todte,
Blinde oder Jrrende zaͤhlt, zu beten, und
fuͤr ihre Errettung dem HErrn nachzuge-
hen, als ein vermeſſen Urtheil uͤber ſie zu
ſprechen, oder gar als Unreine und Heiden
wegzuſtoſſen. Wer biſt du, o Menſch! der
du andere ſo gern richteſt und verwirfeſt,
vor der Gnade geweſen, einer aus dem
groſſen Haufen der Verlohrengehenden?
Hat nun die Liebe des Heylandes aus mit-
leidender Erbarmung dich ohne deine Wuͤr-
digkeit, vor andern in einen beſſern Zuſtand
geſetzet, iſt nicht dieſe Liebe, iſt nicht eben
dieſe Gnade vermoͤgend, ja willig genug,
den, der noch weit hinter dir iſt, in kurzer
Zeit dir nach, ja weit voraus zu bringen?
Wenn eine lebendige Erfahrung in deiner
Seele iſt, was fuͤr eine groſſe und unzaͤhl-
bare Schuld dir dein Heyland aus unver-
dienter Gelindigkeit und Guͤte nachgelaſſen,
ſo weiß ich, du wirſt nicht nur es deinem
Naͤchſten goͤnnen, wenn JEſus auch gegen
ihm guͤtig iſt, ſondern du wirſt fuͤr ihn aus
Mitleiden um das gleiche Erbarmen an-
halten.

Es wurde hierauf unſerer Seligen auf
eine liebreiche Weiſe gezeiget, wie hoͤchſt be-
truͤbt es ſeye, daß ſie bis in ihr Alter auf
denen Wegen der Suͤnde in einem fortge-

gan-
C 4
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[39/0091] Thaten der Gnade. I. Stuͤck. haben glauben, hierdurch erwecken: mehr fuͤr diejenige, die man unter die Todte, Blinde oder Jrrende zaͤhlt, zu beten, und fuͤr ihre Errettung dem HErrn nachzuge- hen, als ein vermeſſen Urtheil uͤber ſie zu ſprechen, oder gar als Unreine und Heiden wegzuſtoſſen. Wer biſt du, o Menſch! der du andere ſo gern richteſt und verwirfeſt, vor der Gnade geweſen, einer aus dem groſſen Haufen der Verlohrengehenden? Hat nun die Liebe des Heylandes aus mit- leidender Erbarmung dich ohne deine Wuͤr- digkeit, vor andern in einen beſſern Zuſtand geſetzet, iſt nicht dieſe Liebe, iſt nicht eben dieſe Gnade vermoͤgend, ja willig genug, den, der noch weit hinter dir iſt, in kurzer Zeit dir nach, ja weit voraus zu bringen? Wenn eine lebendige Erfahrung in deiner Seele iſt, was fuͤr eine groſſe und unzaͤhl- bare Schuld dir dein Heyland aus unver- dienter Gelindigkeit und Guͤte nachgelaſſen, ſo weiß ich, du wirſt nicht nur es deinem Naͤchſten goͤnnen, wenn JEſus auch gegen ihm guͤtig iſt, ſondern du wirſt fuͤr ihn aus Mitleiden um das gleiche Erbarmen an- halten. Es wurde hierauf unſerer Seligen auf eine liebreiche Weiſe gezeiget, wie hoͤchſt be- truͤbt es ſeye, daß ſie bis in ihr Alter auf denen Wegen der Suͤnde in einem fortge- gan- C 4

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Zitationshilfe: Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_wiedergebohrne_1759/91>, abgerufen am 28.04.2024.