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Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759.

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Der grossen und seligen
der Gefahr ist, darinnen man sich befindet,
und je tödtlicher man sich in seinen Wunden
zugerichtet siehet, desto feuriger wird das
Verlangen, und desto schreyender und thrä-
nender das Sehnen nach seiner Hülfe. Je
allgenugsamer auch der Heyland der Seele
vorkommt, je unentbehrlicher seine Gerech-
tigkeit derselben gezeiget wird, desto mehr,
und desto brünstiger wird das Herz und
alle Neigungen der Seele beweget, zu dem
Besitze eines so herrlichen und freundlichen
Heylandes zu gelangen. Wo aber dieses
Verlangen nach dem HErrn JEsu rechter
Art ist, so ist es nicht müßig, stehet nicht
stille bey leeren Wünschen, todten Vorsätzen,
und müßigen Betrachtungen, denn der faule
stirbet ab seinem Wünschen, sondern es ist
etwas lebendiges, treibendes, anstrengendes
und ziehendes. Wie ein Hirsch nicht nur
dürstet, sondern schreyet, lächzet und eilet
nach der Quelle frischer Wassern, so schreyet,
ächzet und laufet die Seele zu dem GOtt
ihres Heils, und zu denen aus seinen Wun-
den strömenden Quellen des Lebens. Da
steiget man mit der Braut Cant. 3:2. von
dem Bette aller geistlicher Sorglosigkeit und
Sicherheit auf, man lauft durch alle Gas-
sen und Strassen, und suchet den, so die
Seele liebet; eine geheime Unruhe lässet die
Seele nicht ehender zufrieden, biß sie des

Hey-

Der groſſen und ſeligen
der Gefahr iſt, darinnen man ſich befindet,
und je toͤdtlicher man ſich in ſeinen Wunden
zugerichtet ſiehet, deſto feuriger wird das
Verlangen, und deſto ſchreyender und thraͤ-
nender das Sehnen nach ſeiner Huͤlfe. Je
allgenugſamer auch der Heyland der Seele
vorkommt, je unentbehrlicher ſeine Gerech-
tigkeit derſelben gezeiget wird, deſto mehr,
und deſto bruͤnſtiger wird das Herz und
alle Neigungen der Seele beweget, zu dem
Beſitze eines ſo herrlichen und freundlichen
Heylandes zu gelangen. Wo aber dieſes
Verlangen nach dem HErrn JEſu rechter
Art iſt, ſo iſt es nicht muͤßig, ſtehet nicht
ſtille bey leeren Wuͤnſchen, todten Vorſaͤtzen,
und muͤßigen Betrachtungen, denn der faule
ſtirbet ab ſeinem Wuͤnſchen, ſondern es iſt
etwas lebendiges, treibendes, anſtrengendes
und ziehendes. Wie ein Hirſch nicht nur
duͤrſtet, ſondern ſchreyet, laͤchzet und eilet
nach der Quelle friſcher Waſſern, ſo ſchreyet,
aͤchzet und laufet die Seele zu dem GOtt
ihres Heils, und zu denen aus ſeinen Wun-
den ſtroͤmenden Quellen des Lebens. Da
ſteiget man mit der Braut Cant. 3:2. von
dem Bette aller geiſtlicher Sorgloſigkeit und
Sicherheit auf, man lauft durch alle Gaſ-
ſen und Straſſen, und ſuchet den, ſo die
Seele liebet; eine geheime Unruhe laͤſſet die
Seele nicht ehender zufrieden, biß ſie des

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[180/0232] Der groſſen und ſeligen der Gefahr iſt, darinnen man ſich befindet, und je toͤdtlicher man ſich in ſeinen Wunden zugerichtet ſiehet, deſto feuriger wird das Verlangen, und deſto ſchreyender und thraͤ- nender das Sehnen nach ſeiner Huͤlfe. Je allgenugſamer auch der Heyland der Seele vorkommt, je unentbehrlicher ſeine Gerech- tigkeit derſelben gezeiget wird, deſto mehr, und deſto bruͤnſtiger wird das Herz und alle Neigungen der Seele beweget, zu dem Beſitze eines ſo herrlichen und freundlichen Heylandes zu gelangen. Wo aber dieſes Verlangen nach dem HErrn JEſu rechter Art iſt, ſo iſt es nicht muͤßig, ſtehet nicht ſtille bey leeren Wuͤnſchen, todten Vorſaͤtzen, und muͤßigen Betrachtungen, denn der faule ſtirbet ab ſeinem Wuͤnſchen, ſondern es iſt etwas lebendiges, treibendes, anſtrengendes und ziehendes. Wie ein Hirſch nicht nur duͤrſtet, ſondern ſchreyet, laͤchzet und eilet nach der Quelle friſcher Waſſern, ſo ſchreyet, aͤchzet und laufet die Seele zu dem GOtt ihres Heils, und zu denen aus ſeinen Wun- den ſtroͤmenden Quellen des Lebens. Da ſteiget man mit der Braut Cant. 3:2. von dem Bette aller geiſtlicher Sorgloſigkeit und Sicherheit auf, man lauft durch alle Gaſ- ſen und Straſſen, und ſuchet den, ſo die Seele liebet; eine geheime Unruhe laͤſſet die Seele nicht ehender zufrieden, biß ſie des Hey-

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Zitationshilfe: Meyer, Johannes: Die grossen und seligen Thaten der Gnade. Zürich, 1759, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_wiedergebohrne_1759/232>, abgerufen am 07.05.2024.