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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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erst in Chur angelangt, hatte die alte Gräfin Travers,
die, hinfällig wie sie war, sich frühzeitig zur Ruhe ge¬
legt hatte, zwar nicht gesehn, aber von der Diener¬
schaft erfahren, das Fräulein sei noch vor Mittag an¬
gelangt, habe ihrer Muhme Gesellschaft geleistet und
sich dann, wie sie bisweilen zu thun pflegte, in ein
für ihren Besuch immer bereit gehaltenes Gemach
zurückgezogen, um sich umzukleiden. Erst vor Kurzem
habe sie, in ein weites Uebergewand gehüllt, das Haus
wieder verlassen, Ihr Knecht, der Sohn des Ried¬
berger Kastellans, sei ihr auf diesem Gange mit der
Fackel vorangeschritten. Wohin sie sich habe geleiten
lassen, wußte niemand zu sagen.

Pancratius hatte aus dem Berichte der Dienstleute
zu Riedberg Verdacht geschöpft, der junge Planta, den
er für einen Feigling hielt, möchte in Bünden be¬
herztere Genossen gefunden haben. Er fürchtete, der
Neid der mächtigen Familien, die Georg Jenatsch
beleidigt hatte, könnte, durch seinen letzten größten
Erfolg aufgestachelt, in mörderische Gewaltthat aus¬
brechen. Damit mußte Lucretias Verschwinden zu¬
sammenhangen, denn bei ihrer Gemüthsart zweifelte
er nicht, daß sie als Mitschuldige oder als Warnerin
in das Unheil verflochten sei. Dieses aber schwebte
über dem Haupte des Obersten, -- als die eine oder

Meyer, Georg Jenatsch. 26

erſt in Chur angelangt, hatte die alte Gräfin Travers,
die, hinfällig wie ſie war, ſich frühzeitig zur Ruhe ge¬
legt hatte, zwar nicht geſehn, aber von der Diener¬
ſchaft erfahren, das Fräulein ſei noch vor Mittag an¬
gelangt, habe ihrer Muhme Geſellſchaft geleiſtet und
ſich dann, wie ſie bisweilen zu thun pflegte, in ein
für ihren Beſuch immer bereit gehaltenes Gemach
zurückgezogen, um ſich umzukleiden. Erſt vor Kurzem
habe ſie, in ein weites Uebergewand gehüllt, das Haus
wieder verlaſſen, Ihr Knecht, der Sohn des Ried¬
berger Kaſtellans, ſei ihr auf dieſem Gange mit der
Fackel vorangeſchritten. Wohin ſie ſich habe geleiten
laſſen, wußte niemand zu ſagen.

Pancratius hatte aus dem Berichte der Dienſtleute
zu Riedberg Verdacht geſchöpft, der junge Planta, den
er für einen Feigling hielt, möchte in Bünden be¬
herztere Genoſſen gefunden haben. Er fürchtete, der
Neid der mächtigen Familien, die Georg Jenatſch
beleidigt hatte, könnte, durch ſeinen letzten größten
Erfolg aufgeſtachelt, in mörderiſche Gewaltthat aus¬
brechen. Damit mußte Lucretias Verſchwinden zu¬
ſammenhangen, denn bei ihrer Gemüthsart zweifelte
er nicht, daß ſie als Mitſchuldige oder als Warnerin
in das Unheil verflochten ſei. Dieſes aber ſchwebte
über dem Haupte des Oberſten, — als die eine oder

Meyer, Georg Jenatſch. 26
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[401/0411] erſt in Chur angelangt, hatte die alte Gräfin Travers, die, hinfällig wie ſie war, ſich frühzeitig zur Ruhe ge¬ legt hatte, zwar nicht geſehn, aber von der Diener¬ ſchaft erfahren, das Fräulein ſei noch vor Mittag an¬ gelangt, habe ihrer Muhme Geſellſchaft geleiſtet und ſich dann, wie ſie bisweilen zu thun pflegte, in ein für ihren Beſuch immer bereit gehaltenes Gemach zurückgezogen, um ſich umzukleiden. Erſt vor Kurzem habe ſie, in ein weites Uebergewand gehüllt, das Haus wieder verlaſſen, Ihr Knecht, der Sohn des Ried¬ berger Kaſtellans, ſei ihr auf dieſem Gange mit der Fackel vorangeſchritten. Wohin ſie ſich habe geleiten laſſen, wußte niemand zu ſagen. Pancratius hatte aus dem Berichte der Dienſtleute zu Riedberg Verdacht geſchöpft, der junge Planta, den er für einen Feigling hielt, möchte in Bünden be¬ herztere Genoſſen gefunden haben. Er fürchtete, der Neid der mächtigen Familien, die Georg Jenatſch beleidigt hatte, könnte, durch ſeinen letzten größten Erfolg aufgeſtachelt, in mörderiſche Gewaltthat aus¬ brechen. Damit mußte Lucretias Verſchwinden zu¬ ſammenhangen, denn bei ihrer Gemüthsart zweifelte er nicht, daß ſie als Mitſchuldige oder als Warnerin in das Unheil verflochten ſei. Dieſes aber ſchwebte über dem Haupte des Oberſten, — als die eine oder Meyer, Georg Jenatſch. 26

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/411>, abgerufen am 11.05.2024.