und besiegelten Documente übergeben. Aber Stunden ver¬ strichen und er kam nicht. Das Gefolge Rudolfs war seinem Herrn nachgeeilt. Jetzt ließ auch sie satteln und ritt nach Chur, von ihrem jüngsten Knechte, dem Sohne des alten Lucas, begleitet.
Sie wollte zu Georg, ihn warnen und retten, oder ihn mit reinen, gerechten Händen tödten. "Jürg ist mein!" sagte sie zu ihrem Herzen.
Erst gegen Mittag klopfte der verspätete Pater ans Thor, und hörte mit Schrecken von dem Erscheinen Rudolfs, und daß das Fräulein in der Frühe nach Chur verreist sei. Eine vertraute Magd hatte den Auf¬ trag, den Kapuziner in das Thurmzimmer zu führen, wo ihre Herrin zu schreiben pflegte. Dort fand er die Schenkungsurkunden in vollständiger Ordnung und die schriftliche Erklärung, daß Lucretia Planta der Welt entsage und im Kloster Cazis den Schleier nehme.
Nachdenklich und traurig stand der Mönch vor die¬ sen Zeugen eines schweren und schmerzlich vollendeten Seelenkampfes. Die Entscheidung erfreute ihn weniger, als es von einem ächten Sohne des heiligen Franziskus zu erwarten gewesen wäre. Auch beunruhigte ihn Lu¬ cretias Ritt nach Chur. Er wußte, daß sein Beicht¬ kind in schwierigen Lagen die kleinen Hülfsmittel und Auswege weltlicher Klugheit nicht fand, daß Lucretias
und beſiegelten Documente übergeben. Aber Stunden ver¬ ſtrichen und er kam nicht. Das Gefolge Rudolfs war ſeinem Herrn nachgeeilt. Jetzt ließ auch ſie ſatteln und ritt nach Chur, von ihrem jüngſten Knechte, dem Sohne des alten Lucas, begleitet.
Sie wollte zu Georg, ihn warnen und retten, oder ihn mit reinen, gerechten Händen tödten. „Jürg iſt mein!“ ſagte ſie zu ihrem Herzen.
Erſt gegen Mittag klopfte der verſpätete Pater ans Thor, und hörte mit Schrecken von dem Erſcheinen Rudolfs, und daß das Fräulein in der Frühe nach Chur verreiſt ſei. Eine vertraute Magd hatte den Auf¬ trag, den Kapuziner in das Thurmzimmer zu führen, wo ihre Herrin zu ſchreiben pflegte. Dort fand er die Schenkungsurkunden in vollſtändiger Ordnung und die ſchriftliche Erklärung, daß Lucretia Planta der Welt entſage und im Kloſter Cazis den Schleier nehme.
Nachdenklich und traurig ſtand der Mönch vor die¬ ſen Zeugen eines ſchweren und ſchmerzlich vollendeten Seelenkampfes. Die Entſcheidung erfreute ihn weniger, als es von einem ächten Sohne des heiligen Franziskus zu erwarten geweſen wäre. Auch beunruhigte ihn Lu¬ cretias Ritt nach Chur. Er wußte, daß ſein Beicht¬ kind in ſchwierigen Lagen die kleinen Hülfsmittel und Auswege weltlicher Klugheit nicht fand, daß Lucretias
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und beſiegelten Documente übergeben. Aber Stunden ver¬
ſtrichen und er kam nicht. Das Gefolge Rudolfs war
ſeinem Herrn nachgeeilt. Jetzt ließ auch ſie ſatteln und
ritt nach Chur, von ihrem jüngſten Knechte, dem Sohne
des alten Lucas, begleitet.
Sie wollte zu Georg, ihn warnen und retten, oder
ihn mit reinen, gerechten Händen tödten. „Jürg iſt
mein!“ ſagte ſie zu ihrem Herzen.
Erſt gegen Mittag klopfte der verſpätete Pater
ans Thor, und hörte mit Schrecken von dem Erſcheinen
Rudolfs, und daß das Fräulein in der Frühe nach
Chur verreiſt ſei. Eine vertraute Magd hatte den Auf¬
trag, den Kapuziner in das Thurmzimmer zu führen,
wo ihre Herrin zu ſchreiben pflegte. Dort fand er die
Schenkungsurkunden in vollſtändiger Ordnung und die
ſchriftliche Erklärung, daß Lucretia Planta der Welt
entſage und im Kloſter Cazis den Schleier nehme.
Nachdenklich und traurig ſtand der Mönch vor die¬
ſen Zeugen eines ſchweren und ſchmerzlich vollendeten
Seelenkampfes. Die Entſcheidung erfreute ihn weniger,
als es von einem ächten Sohne des heiligen Franziskus
zu erwarten geweſen wäre. Auch beunruhigte ihn Lu¬
cretias Ritt nach Chur. Er wußte, daß ſein Beicht¬
kind in ſchwierigen Lagen die kleinen Hülfsmittel und
Auswege weltlicher Klugheit nicht fand, daß Lucretias
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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/380>, abgerufen am 22.11.2024.
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