nacht ging vorüber und immer noch saß Lucretia am Thurmfenster und hörte rathlos und ohne klare Ge¬ danken dem dumpfen Rauschen des Rheines zu.
Wie ein riesenhaftes dunkles Unheil stand vor ihr was aus ihrem Leben geworden. Aber das Leid um ihren Vater, eine vertrauerte Jugend, ihre jetzige Ver¬ lassenheit und die Schrecken der Zukunft sanken in ein unbestimmtes, dumpfes Schmerzgefühl zurück, aus dem ein einziger, stärker und stärker ertönender Vorwurf emporstieg und ihr ans Herz griff: Sie war ihres Vaters nicht würdig. Sie hatte ihre Rache versäumt.
Konnte sie nicht jetzt noch von dieser Last sich be¬ freien? Nicht jetzt noch einem Feigling das Recht neh¬ men, sie im Einklange mit ihrem eigenen Herzen einer leichtfertig vergessenen Kindespflicht anzuklagen? Nein! Sie war zu schwach dazu! -- Nein, sie wollte nicht stark genug sein.
Ihr allein gehörte das Recht der Rache und sie übte es nicht aus; aber sie erbebte vor Zorn, als sie sich es möglich dachte, daß ein Anderer es ihr entreißen könnte . . . . . Freilich daß Rudolf dieß gelinge, das war ihr auch jetzt, da sie ihn im höchsten, widerwärtig¬ sten Wuthaufwande seiner feigen Natur gesehn, durch¬ aus unglaublich. Wie sollte diese Viper ihren stolzen Adler erreichen!
nacht ging vorüber und immer noch ſaß Lucretia am Thurmfenſter und hörte rathlos und ohne klare Ge¬ danken dem dumpfen Rauſchen des Rheines zu.
Wie ein rieſenhaftes dunkles Unheil ſtand vor ihr was aus ihrem Leben geworden. Aber das Leid um ihren Vater, eine vertrauerte Jugend, ihre jetzige Ver¬ laſſenheit und die Schrecken der Zukunft ſanken in ein unbeſtimmtes, dumpfes Schmerzgefühl zurück, aus dem ein einziger, ſtärker und ſtärker ertönender Vorwurf emporſtieg und ihr ans Herz griff: Sie war ihres Vaters nicht würdig. Sie hatte ihre Rache verſäumt.
Konnte ſie nicht jetzt noch von dieſer Laſt ſich be¬ freien? Nicht jetzt noch einem Feigling das Recht neh¬ men, ſie im Einklange mit ihrem eigenen Herzen einer leichtfertig vergeſſenen Kindespflicht anzuklagen? Nein! Sie war zu ſchwach dazu! — Nein, ſie wollte nicht ſtark genug ſein.
Ihr allein gehörte das Recht der Rache und ſie übte es nicht aus; aber ſie erbebte vor Zorn, als ſie ſich es möglich dachte, daß ein Anderer es ihr entreißen könnte . . . . . Freilich daß Rudolf dieß gelinge, das war ihr auch jetzt, da ſie ihn im höchſten, widerwärtig¬ ſten Wuthaufwande ſeiner feigen Natur geſehn, durch¬ aus unglaublich. Wie ſollte dieſe Viper ihren ſtolzen Adler erreichen!
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nacht ging vorüber und immer noch ſaß Lucretia am
Thurmfenſter und hörte rathlos und ohne klare Ge¬
danken dem dumpfen Rauſchen des Rheines zu.
Wie ein rieſenhaftes dunkles Unheil ſtand vor ihr
was aus ihrem Leben geworden. Aber das Leid um
ihren Vater, eine vertrauerte Jugend, ihre jetzige Ver¬
laſſenheit und die Schrecken der Zukunft ſanken in ein
unbeſtimmtes, dumpfes Schmerzgefühl zurück, aus dem
ein einziger, ſtärker und ſtärker ertönender Vorwurf
emporſtieg und ihr ans Herz griff: Sie war ihres
Vaters nicht würdig. Sie hatte ihre Rache verſäumt.
Konnte ſie nicht jetzt noch von dieſer Laſt ſich be¬
freien? Nicht jetzt noch einem Feigling das Recht neh¬
men, ſie im Einklange mit ihrem eigenen Herzen einer
leichtfertig vergeſſenen Kindespflicht anzuklagen? Nein!
Sie war zu ſchwach dazu! — Nein, ſie wollte nicht ſtark
genug ſein.
Ihr allein gehörte das Recht der Rache und ſie
übte es nicht aus; aber ſie erbebte vor Zorn, als ſie
ſich es möglich dachte, daß ein Anderer es ihr entreißen
könnte . . . . . Freilich daß Rudolf dieß gelinge, das
war ihr auch jetzt, da ſie ihn im höchſten, widerwärtig¬
ſten Wuthaufwande ſeiner feigen Natur geſehn, durch¬
aus unglaublich. Wie ſollte dieſe Viper ihren ſtolzen
Adler erreichen!
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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/376>, abgerufen am 22.11.2024.
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