Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

nacht ging vorüber und immer noch saß Lucretia am
Thurmfenster und hörte rathlos und ohne klare Ge¬
danken dem dumpfen Rauschen des Rheines zu.

Wie ein riesenhaftes dunkles Unheil stand vor ihr
was aus ihrem Leben geworden. Aber das Leid um
ihren Vater, eine vertrauerte Jugend, ihre jetzige Ver¬
lassenheit und die Schrecken der Zukunft sanken in ein
unbestimmtes, dumpfes Schmerzgefühl zurück, aus dem
ein einziger, stärker und stärker ertönender Vorwurf
emporstieg und ihr ans Herz griff: Sie war ihres
Vaters nicht würdig. Sie hatte ihre Rache versäumt.

Konnte sie nicht jetzt noch von dieser Last sich be¬
freien? Nicht jetzt noch einem Feigling das Recht neh¬
men, sie im Einklange mit ihrem eigenen Herzen einer
leichtfertig vergessenen Kindespflicht anzuklagen? Nein!
Sie war zu schwach dazu! -- Nein, sie wollte nicht stark
genug sein.

Ihr allein gehörte das Recht der Rache und sie
übte es nicht aus; aber sie erbebte vor Zorn, als sie
sich es möglich dachte, daß ein Anderer es ihr entreißen
könnte . . . . . Freilich daß Rudolf dieß gelinge, das
war ihr auch jetzt, da sie ihn im höchsten, widerwärtig¬
sten Wuthaufwande seiner feigen Natur gesehn, durch¬
aus unglaublich. Wie sollte diese Viper ihren stolzen
Adler erreichen!

nacht ging vorüber und immer noch ſaß Lucretia am
Thurmfenſter und hörte rathlos und ohne klare Ge¬
danken dem dumpfen Rauſchen des Rheines zu.

Wie ein rieſenhaftes dunkles Unheil ſtand vor ihr
was aus ihrem Leben geworden. Aber das Leid um
ihren Vater, eine vertrauerte Jugend, ihre jetzige Ver¬
laſſenheit und die Schrecken der Zukunft ſanken in ein
unbeſtimmtes, dumpfes Schmerzgefühl zurück, aus dem
ein einziger, ſtärker und ſtärker ertönender Vorwurf
emporſtieg und ihr ans Herz griff: Sie war ihres
Vaters nicht würdig. Sie hatte ihre Rache verſäumt.

Konnte ſie nicht jetzt noch von dieſer Laſt ſich be¬
freien? Nicht jetzt noch einem Feigling das Recht neh¬
men, ſie im Einklange mit ihrem eigenen Herzen einer
leichtfertig vergeſſenen Kindespflicht anzuklagen? Nein!
Sie war zu ſchwach dazu! — Nein, ſie wollte nicht ſtark
genug ſein.

Ihr allein gehörte das Recht der Rache und ſie
übte es nicht aus; aber ſie erbebte vor Zorn, als ſie
ſich es möglich dachte, daß ein Anderer es ihr entreißen
könnte . . . . . Freilich daß Rudolf dieß gelinge, das
war ihr auch jetzt, da ſie ihn im höchſten, widerwärtig¬
ſten Wuthaufwande ſeiner feigen Natur geſehn, durch¬
aus unglaublich. Wie ſollte dieſe Viper ihren ſtolzen
Adler erreichen!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0376" n="366"/>
nacht ging vorüber und immer noch &#x017F;aß Lucretia am<lb/>
Thurmfen&#x017F;ter und hörte rathlos und ohne klare Ge¬<lb/>
danken dem dumpfen Rau&#x017F;chen des Rheines zu.</p><lb/>
          <p>Wie ein rie&#x017F;enhaftes dunkles Unheil &#x017F;tand vor ihr<lb/>
was aus ihrem Leben geworden. Aber das Leid um<lb/>
ihren Vater, eine vertrauerte Jugend, ihre jetzige Ver¬<lb/>
la&#x017F;&#x017F;enheit und die Schrecken der Zukunft &#x017F;anken in ein<lb/>
unbe&#x017F;timmtes, dumpfes Schmerzgefühl zurück, aus dem<lb/>
ein einziger, &#x017F;tärker und &#x017F;tärker ertönender Vorwurf<lb/>
empor&#x017F;tieg und ihr ans Herz griff: Sie war ihres<lb/>
Vaters nicht würdig. Sie hatte ihre Rache ver&#x017F;äumt.</p><lb/>
          <p>Konnte &#x017F;ie nicht jetzt noch von die&#x017F;er La&#x017F;t &#x017F;ich be¬<lb/>
freien? Nicht jetzt noch einem Feigling das Recht neh¬<lb/>
men, &#x017F;ie im Einklange mit ihrem eigenen Herzen einer<lb/>
leichtfertig verge&#x017F;&#x017F;enen Kindespflicht anzuklagen? Nein!<lb/>
Sie war zu &#x017F;chwach dazu! &#x2014; Nein, &#x017F;ie wollte nicht &#x017F;tark<lb/>
genug &#x017F;ein.</p><lb/>
          <p>Ihr allein gehörte das Recht der Rache und &#x017F;ie<lb/>
übte es nicht aus; aber &#x017F;ie erbebte vor Zorn, als &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich es möglich dachte, daß ein Anderer es ihr entreißen<lb/>
könnte . . . . . Freilich daß Rudolf dieß gelinge, das<lb/>
war ihr auch jetzt, da &#x017F;ie ihn im höch&#x017F;ten, widerwärtig¬<lb/>
&#x017F;ten Wuthaufwande &#x017F;einer feigen Natur ge&#x017F;ehn, durch¬<lb/>
aus unglaublich. Wie &#x017F;ollte die&#x017F;e Viper ihren &#x017F;tolzen<lb/>
Adler erreichen!</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[366/0376] nacht ging vorüber und immer noch ſaß Lucretia am Thurmfenſter und hörte rathlos und ohne klare Ge¬ danken dem dumpfen Rauſchen des Rheines zu. Wie ein rieſenhaftes dunkles Unheil ſtand vor ihr was aus ihrem Leben geworden. Aber das Leid um ihren Vater, eine vertrauerte Jugend, ihre jetzige Ver¬ laſſenheit und die Schrecken der Zukunft ſanken in ein unbeſtimmtes, dumpfes Schmerzgefühl zurück, aus dem ein einziger, ſtärker und ſtärker ertönender Vorwurf emporſtieg und ihr ans Herz griff: Sie war ihres Vaters nicht würdig. Sie hatte ihre Rache verſäumt. Konnte ſie nicht jetzt noch von dieſer Laſt ſich be¬ freien? Nicht jetzt noch einem Feigling das Recht neh¬ men, ſie im Einklange mit ihrem eigenen Herzen einer leichtfertig vergeſſenen Kindespflicht anzuklagen? Nein! Sie war zu ſchwach dazu! — Nein, ſie wollte nicht ſtark genug ſein. Ihr allein gehörte das Recht der Rache und ſie übte es nicht aus; aber ſie erbebte vor Zorn, als ſie ſich es möglich dachte, daß ein Anderer es ihr entreißen könnte . . . . . Freilich daß Rudolf dieß gelinge, das war ihr auch jetzt, da ſie ihn im höchſten, widerwärtig¬ ſten Wuthaufwande ſeiner feigen Natur geſehn, durch¬ aus unglaublich. Wie ſollte dieſe Viper ihren ſtolzen Adler erreichen!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/376
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/376>, abgerufen am 22.11.2024.