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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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herr an seiner Seite aus einer silbernen Kanne gefüllt
hatte. Meyer trat entschlossen vor und bat den Herzog
in gerührten Worten, den seiner Erlaucht von der
Stadt Chur mit Danksagung und Segenswunsch ange¬
botenen Abschiedstrunk nicht zu verschmähen. Während
Rohan sich die Lippen netzte, sammelte der Bürger¬
meister seinen Geist zu einer wohlgesetzten französischen
Rede, auf die er sich sorgfältig vorbereitet hatte.

Bürgermeister Meyer war kein Redner. Im Rath
und in der Gemeinde war es ihm ein Leichtes, seine
Gedanken schlicht und zweckdienlich auszudrücken und zu
einem bündigen Schlusse zu gelangen. Aber es war ihm
nicht gegeben, zwiespältige Gefühle und zweideutige Ge¬
danken unter zierlichen Blumen der Beredsamkeit zu
verbergen.

Er hatte damit begonnen, des Herzogs ruhmreiche
Tapferkeit und seine erhabene staatsmännische Weisheit
zu preisen, die beide zu Bündens Rettung wie zwei
geflügelte Genien herbeigeeilt seien. Dann warf er
einen Blick in den Abgrund, aus welchem der Herzog
das bündnerische Volk gezogen habe. Jetzt kam eine
dunkle Stelle, in der von sich überstürzenden Ereignissen,
seltsamen himmlischen Conjuncturen und dem großen
Herzen Ludwigs XIII die Rede war. -- Hier wurde
Herr Meyer warm, übersprang unversehens die logischen

herr an ſeiner Seite aus einer ſilbernen Kanne gefüllt
hatte. Meyer trat entſchloſſen vor und bat den Herzog
in gerührten Worten, den ſeiner Erlaucht von der
Stadt Chur mit Dankſagung und Segenswunſch ange¬
botenen Abſchiedstrunk nicht zu verſchmähen. Während
Rohan ſich die Lippen netzte, ſammelte der Bürger¬
meiſter ſeinen Geiſt zu einer wohlgeſetzten franzöſiſchen
Rede, auf die er ſich ſorgfältig vorbereitet hatte.

Bürgermeiſter Meyer war kein Redner. Im Rath
und in der Gemeinde war es ihm ein Leichtes, ſeine
Gedanken ſchlicht und zweckdienlich auszudrücken und zu
einem bündigen Schluſſe zu gelangen. Aber es war ihm
nicht gegeben, zwieſpältige Gefühle und zweideutige Ge¬
danken unter zierlichen Blumen der Beredſamkeit zu
verbergen.

Er hatte damit begonnen, des Herzogs ruhmreiche
Tapferkeit und ſeine erhabene ſtaatsmänniſche Weisheit
zu preiſen, die beide zu Bündens Rettung wie zwei
geflügelte Genien herbeigeeilt ſeien. Dann warf er
einen Blick in den Abgrund, aus welchem der Herzog
das bündneriſche Volk gezogen habe. Jetzt kam eine
dunkle Stelle, in der von ſich überſtürzenden Ereigniſſen,
ſeltſamen himmliſchen Conjuncturen und dem großen
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[345/0355] herr an ſeiner Seite aus einer ſilbernen Kanne gefüllt hatte. Meyer trat entſchloſſen vor und bat den Herzog in gerührten Worten, den ſeiner Erlaucht von der Stadt Chur mit Dankſagung und Segenswunſch ange¬ botenen Abſchiedstrunk nicht zu verſchmähen. Während Rohan ſich die Lippen netzte, ſammelte der Bürger¬ meiſter ſeinen Geiſt zu einer wohlgeſetzten franzöſiſchen Rede, auf die er ſich ſorgfältig vorbereitet hatte. Bürgermeiſter Meyer war kein Redner. Im Rath und in der Gemeinde war es ihm ein Leichtes, ſeine Gedanken ſchlicht und zweckdienlich auszudrücken und zu einem bündigen Schluſſe zu gelangen. Aber es war ihm nicht gegeben, zwieſpältige Gefühle und zweideutige Ge¬ danken unter zierlichen Blumen der Beredſamkeit zu verbergen. Er hatte damit begonnen, des Herzogs ruhmreiche Tapferkeit und ſeine erhabene ſtaatsmänniſche Weisheit zu preiſen, die beide zu Bündens Rettung wie zwei geflügelte Genien herbeigeeilt ſeien. Dann warf er einen Blick in den Abgrund, aus welchem der Herzog das bündneriſche Volk gezogen habe. Jetzt kam eine dunkle Stelle, in der von ſich überſtürzenden Ereigniſſen, ſeltſamen himmliſchen Conjuncturen und dem großen Herzen Ludwigs XIII die Rede war. — Hier wurde Herr Meyer warm, überſprang unverſehens die logiſchen

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/355>, abgerufen am 18.05.2024.