Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

that ihr offenbar nicht wohl. Da war Lucas, der
rachsüchtige Graubart, der das schwarze Kreuz an der
Mordmauer nicht erblassen ließ, und der das immer
scharf gehaltene Todesbeil wie eine Reliquie in einer
wurmstichigen Eichentruhe sorgfältig verwahrt hielt.
Das Fräulein mußte, fürchtete die Schwester, immer
tiefer in sich selbst und die ihr Gemüth von allen
Seiten umrankenden, jeden neuen Lebenskeim ersticken¬
den Erinnerungen versinken. Sie konnte den Riß nicht
überwinden, der Altes und Neues für sie trennte.
Sie lebte wenig in der Wirklichkeit, sondern verkehrte
im Geiste mit ihrem todten Vater, von dessen Gemüths¬
art sie viel geerbt hatte, und dem sie mit jedem Jahre
in auffallender Weise auch in ihrem Aussehen ähnlicher
wurde. Es war dieselbe Pracht der Gestalt, dieselbe
stolze Haltung. Ihr Ohm, der Freiherr Rudolf, war
in der Verbannung gestorben und sie hatte außer seinem
niedrig gesinnten und eigennützigen Sohne keine nähern
Sippen. Eine Verwandte ihrer Mutter lebte noch in
Chur, und sie pflegte sie zu besuchen; aber diese Gräfin
Travers war durch schwere Schicksale und ein über¬
langes Leben versteinert und wenn auch gut katholisch,
kaum mehr als ein stumpfes Echo längst verschollener
Tage. Daß Lucretia mit den Juvalta auf Fürstenau
und dem auf den andern Nachbarschlössern sitzenden

that ihr offenbar nicht wohl. Da war Lucas, der
rachſüchtige Graubart, der das ſchwarze Kreuz an der
Mordmauer nicht erblaſſen ließ, und der das immer
ſcharf gehaltene Todesbeil wie eine Reliquie in einer
wurmſtichigen Eichentruhe ſorgfältig verwahrt hielt.
Das Fräulein mußte, fürchtete die Schweſter, immer
tiefer in ſich ſelbſt und die ihr Gemüth von allen
Seiten umrankenden, jeden neuen Lebenskeim erſticken¬
den Erinnerungen verſinken. Sie konnte den Riß nicht
überwinden, der Altes und Neues für ſie trennte.
Sie lebte wenig in der Wirklichkeit, ſondern verkehrte
im Geiſte mit ihrem todten Vater, von deſſen Gemüths¬
art ſie viel geerbt hatte, und dem ſie mit jedem Jahre
in auffallender Weiſe auch in ihrem Ausſehen ähnlicher
wurde. Es war dieſelbe Pracht der Geſtalt, dieſelbe
ſtolze Haltung. Ihr Ohm, der Freiherr Rudolf, war
in der Verbannung geſtorben und ſie hatte außer ſeinem
niedrig geſinnten und eigennützigen Sohne keine nähern
Sippen. Eine Verwandte ihrer Mutter lebte noch in
Chur, und ſie pflegte ſie zu beſuchen; aber dieſe Gräfin
Travers war durch ſchwere Schickſale und ein über¬
langes Leben verſteinert und wenn auch gut katholiſch,
kaum mehr als ein ſtumpfes Echo längſt verſchollener
Tage. Daß Lucretia mit den Juvalta auf Fürſtenau
und dem auf den andern Nachbarſchlöſſern ſitzenden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0293" n="283"/>
that ihr offenbar nicht wohl. Da war Lucas, der<lb/>
rach&#x017F;üchtige Graubart, der das &#x017F;chwarze Kreuz an der<lb/>
Mordmauer nicht erbla&#x017F;&#x017F;en ließ, und der das immer<lb/>
&#x017F;charf gehaltene Todesbeil wie eine Reliquie in einer<lb/>
wurm&#x017F;tichigen Eichentruhe &#x017F;orgfältig verwahrt hielt.<lb/>
Das Fräulein mußte, fürchtete die Schwe&#x017F;ter, immer<lb/>
tiefer in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t und die ihr Gemüth von allen<lb/>
Seiten umrankenden, jeden neuen Lebenskeim er&#x017F;ticken¬<lb/>
den Erinnerungen ver&#x017F;inken. Sie konnte den Riß nicht<lb/>
überwinden, der Altes und Neues für &#x017F;ie trennte.<lb/>
Sie lebte wenig in der Wirklichkeit, &#x017F;ondern verkehrte<lb/>
im Gei&#x017F;te mit ihrem todten Vater, von de&#x017F;&#x017F;en Gemüths¬<lb/>
art &#x017F;ie viel geerbt hatte, und dem &#x017F;ie mit jedem Jahre<lb/>
in auffallender Wei&#x017F;e auch in ihrem Aus&#x017F;ehen ähnlicher<lb/>
wurde. Es war die&#x017F;elbe Pracht der Ge&#x017F;talt, die&#x017F;elbe<lb/>
&#x017F;tolze Haltung. Ihr Ohm, der Freiherr Rudolf, war<lb/>
in der Verbannung ge&#x017F;torben und &#x017F;ie hatte außer &#x017F;einem<lb/>
niedrig ge&#x017F;innten und eigennützigen Sohne keine nähern<lb/>
Sippen. Eine Verwandte ihrer Mutter lebte noch in<lb/>
Chur, und &#x017F;ie pflegte &#x017F;ie zu be&#x017F;uchen; aber die&#x017F;e Gräfin<lb/>
Travers war durch &#x017F;chwere Schick&#x017F;ale und ein über¬<lb/>
langes Leben ver&#x017F;teinert und wenn auch gut katholi&#x017F;ch,<lb/>
kaum mehr als ein &#x017F;tumpfes Echo läng&#x017F;t ver&#x017F;chollener<lb/>
Tage. Daß Lucretia mit den Juvalta auf Für&#x017F;tenau<lb/>
und dem auf den andern Nachbar&#x017F;chlö&#x017F;&#x017F;ern &#x017F;itzenden<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[283/0293] that ihr offenbar nicht wohl. Da war Lucas, der rachſüchtige Graubart, der das ſchwarze Kreuz an der Mordmauer nicht erblaſſen ließ, und der das immer ſcharf gehaltene Todesbeil wie eine Reliquie in einer wurmſtichigen Eichentruhe ſorgfältig verwahrt hielt. Das Fräulein mußte, fürchtete die Schweſter, immer tiefer in ſich ſelbſt und die ihr Gemüth von allen Seiten umrankenden, jeden neuen Lebenskeim erſticken¬ den Erinnerungen verſinken. Sie konnte den Riß nicht überwinden, der Altes und Neues für ſie trennte. Sie lebte wenig in der Wirklichkeit, ſondern verkehrte im Geiſte mit ihrem todten Vater, von deſſen Gemüths¬ art ſie viel geerbt hatte, und dem ſie mit jedem Jahre in auffallender Weiſe auch in ihrem Ausſehen ähnlicher wurde. Es war dieſelbe Pracht der Geſtalt, dieſelbe ſtolze Haltung. Ihr Ohm, der Freiherr Rudolf, war in der Verbannung geſtorben und ſie hatte außer ſeinem niedrig geſinnten und eigennützigen Sohne keine nähern Sippen. Eine Verwandte ihrer Mutter lebte noch in Chur, und ſie pflegte ſie zu beſuchen; aber dieſe Gräfin Travers war durch ſchwere Schickſale und ein über¬ langes Leben verſteinert und wenn auch gut katholiſch, kaum mehr als ein ſtumpfes Echo längſt verſchollener Tage. Daß Lucretia mit den Juvalta auf Fürſtenau und dem auf den andern Nachbarſchlöſſern ſitzenden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/293
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/293>, abgerufen am 20.05.2024.