Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

Blicke voller Güte auf die schweigend und bescheiden
vor ihm stehende Bündnerin gerichtet, als suchte er in
ihren ruhigen Zügen und in ihren warmen dunkeln
Augen das Anliegen zu lesen, welches sie zu ihm führte;
denn dieses war ihm bis jetzt trotz der eifrigen Ver¬
wendung und begeisterten Rede seiner Gemahlin voll¬
kommen unverständlich und verborgen geblieben.

"Ich bin des Pompejus Planta Tochter, Lucretia",
beantwortete jetzt die Fremde seine stumme Frage. "Als
mein Vater in Bünden geächtet ward, brachte er mich,
die Fünfzehnjährige, zu den Klosterfrauen nach Monza
und dort traf mich die Kunde seiner Ermordung. Er¬
laßt mir, Euch zu sagen, wie sie mein Leben zerstörte
und wie völlig ich seither verwaist bin. Heim in mein
Bünden konnte ich nicht kehren, und kann es auch jetzt
nicht ohne Eure Hilfe. Es ist geschlagen von Krieg
und schwerer innerer Zwietracht, denn der Fluch unge¬
rochener Mordthat ruht auf ihm und das Blut meines
Vaters schreit gen Himmel. -- Wohl lebt mir noch ein
Ohm in Mailand, der geächtete Rudolf Planta, der bis
heute mit mir das Brot der Verbannung theilte; denn
in das Stift zu Monza trat ich nicht, weil ich zu arm
war und meine Berge nicht auf ewig missen wollte.
Warum ich jetzt den Ohm verlasse, gestattet mir zu ver¬
schweigen. -- Ich bin ein vom Stamme gerissener, auf

Blicke voller Güte auf die ſchweigend und beſcheiden
vor ihm ſtehende Bündnerin gerichtet, als ſuchte er in
ihren ruhigen Zügen und in ihren warmen dunkeln
Augen das Anliegen zu leſen, welches ſie zu ihm führte;
denn dieſes war ihm bis jetzt trotz der eifrigen Ver¬
wendung und begeiſterten Rede ſeiner Gemahlin voll¬
kommen unverſtändlich und verborgen geblieben.

„Ich bin des Pompejus Planta Tochter, Lucretia“,
beantwortete jetzt die Fremde ſeine ſtumme Frage. „Als
mein Vater in Bünden geächtet ward, brachte er mich,
die Fünfzehnjährige, zu den Kloſterfrauen nach Monza
und dort traf mich die Kunde ſeiner Ermordung. Er¬
laßt mir, Euch zu ſagen, wie ſie mein Leben zerſtörte
und wie völlig ich ſeither verwaiſt bin. Heim in mein
Bünden konnte ich nicht kehren, und kann es auch jetzt
nicht ohne Eure Hilfe. Es iſt geſchlagen von Krieg
und ſchwerer innerer Zwietracht, denn der Fluch unge¬
rochener Mordthat ruht auf ihm und das Blut meines
Vaters ſchreit gen Himmel. — Wohl lebt mir noch ein
Ohm in Mailand, der geächtete Rudolf Planta, der bis
heute mit mir das Brot der Verbannung theilte; denn
in das Stift zu Monza trat ich nicht, weil ich zu arm
war und meine Berge nicht auf ewig miſſen wollte.
Warum ich jetzt den Ohm verlaſſe, geſtattet mir zu ver¬
ſchweigen. — Ich bin ein vom Stamme geriſſener, auf

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0183" n="173"/>
Blicke voller Güte auf die &#x017F;chweigend und be&#x017F;cheiden<lb/>
vor ihm &#x017F;tehende Bündnerin gerichtet, als &#x017F;uchte er in<lb/>
ihren ruhigen Zügen und in ihren warmen dunkeln<lb/>
Augen das Anliegen zu le&#x017F;en, welches &#x017F;ie zu ihm führte;<lb/>
denn die&#x017F;es war ihm bis jetzt trotz der eifrigen Ver¬<lb/>
wendung und begei&#x017F;terten Rede &#x017F;einer Gemahlin voll¬<lb/>
kommen unver&#x017F;tändlich und verborgen geblieben.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ich bin des Pompejus Planta Tochter, Lucretia&#x201C;,<lb/>
beantwortete jetzt die Fremde &#x017F;eine &#x017F;tumme Frage. &#x201E;Als<lb/>
mein Vater in Bünden geächtet ward, brachte er mich,<lb/>
die Fünfzehnjährige, zu den Klo&#x017F;terfrauen nach Monza<lb/>
und dort traf mich die Kunde &#x017F;einer Ermordung. Er¬<lb/>
laßt mir, Euch zu &#x017F;agen, wie &#x017F;ie mein Leben zer&#x017F;törte<lb/>
und wie völlig ich &#x017F;either verwai&#x017F;t bin. Heim in mein<lb/>
Bünden konnte ich nicht kehren, und kann es auch jetzt<lb/>
nicht ohne Eure Hilfe. Es i&#x017F;t ge&#x017F;chlagen von Krieg<lb/>
und &#x017F;chwerer innerer Zwietracht, denn der Fluch unge¬<lb/>
rochener Mordthat ruht auf ihm und das Blut meines<lb/>
Vaters &#x017F;chreit gen Himmel. &#x2014; Wohl lebt mir noch ein<lb/>
Ohm in Mailand, der geächtete Rudolf Planta, der bis<lb/>
heute mit mir das Brot der Verbannung theilte; denn<lb/>
in das Stift zu Monza trat ich nicht, weil ich zu arm<lb/>
war und meine Berge nicht auf ewig mi&#x017F;&#x017F;en wollte.<lb/>
Warum ich jetzt den Ohm verla&#x017F;&#x017F;e, ge&#x017F;tattet mir zu ver¬<lb/>
&#x017F;chweigen. &#x2014; Ich bin ein vom Stamme geri&#x017F;&#x017F;ener, auf<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0183] Blicke voller Güte auf die ſchweigend und beſcheiden vor ihm ſtehende Bündnerin gerichtet, als ſuchte er in ihren ruhigen Zügen und in ihren warmen dunkeln Augen das Anliegen zu leſen, welches ſie zu ihm führte; denn dieſes war ihm bis jetzt trotz der eifrigen Ver¬ wendung und begeiſterten Rede ſeiner Gemahlin voll¬ kommen unverſtändlich und verborgen geblieben. „Ich bin des Pompejus Planta Tochter, Lucretia“, beantwortete jetzt die Fremde ſeine ſtumme Frage. „Als mein Vater in Bünden geächtet ward, brachte er mich, die Fünfzehnjährige, zu den Kloſterfrauen nach Monza und dort traf mich die Kunde ſeiner Ermordung. Er¬ laßt mir, Euch zu ſagen, wie ſie mein Leben zerſtörte und wie völlig ich ſeither verwaiſt bin. Heim in mein Bünden konnte ich nicht kehren, und kann es auch jetzt nicht ohne Eure Hilfe. Es iſt geſchlagen von Krieg und ſchwerer innerer Zwietracht, denn der Fluch unge¬ rochener Mordthat ruht auf ihm und das Blut meines Vaters ſchreit gen Himmel. — Wohl lebt mir noch ein Ohm in Mailand, der geächtete Rudolf Planta, der bis heute mit mir das Brot der Verbannung theilte; denn in das Stift zu Monza trat ich nicht, weil ich zu arm war und meine Berge nicht auf ewig miſſen wollte. Warum ich jetzt den Ohm verlaſſe, geſtattet mir zu ver¬ ſchweigen. — Ich bin ein vom Stamme geriſſener, auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/183
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/183>, abgerufen am 24.11.2024.