Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite
Er floh davon hinaus in Wald und Wildniß,
Doch wo er lechzend schlürft' aus einem Quell,
Sah er im Brunnen ein geliebtes Bildniß
Aus naher Tiefe schimmern dunkel hell,
Sah er ein blasses Angesicht in Zähren,
Es schwand und blickte wiederum empor,
Von Sehnen und Erfüllen und Gewähren
Rauscht's um den Born in Schilf und Rohr.
"Maria!" so beginnt in ihrer Kammer
Am Lager knieend sie das Nachtgebet,
"Maria!" wiederholt voll Glut und Jammer
Ein Mund, der neben ihr im Dunkel fleht.
Sie schreit. Man kommt. Von Fackelglut umlodert
Bebt sie vor Zorn: "Ein Mörder! fesselt ihn!"
Er lächelt: "Bist du schön!" Unaufgefordert
Giebt er den Schergen sich dahin.
Er schreitet seinem Blutgerüst entgegen
In einem klaren kühlen Morgenrot,
Ins Ohr des Sünders flüstert angelegen
Ein Capuziner, der vermummte Tod:
"Freund, du bekommst es gut! Du wirst entlastet!
Ich absolvire dich von Lust und Pein!
Von keiner weichen weißen Hand betastet,
Wirst du die stumme Laute sein!"

Er floh davon hinaus in Wald und Wildniß,
Doch wo er lechzend ſchlürft' aus einem Quell,
Sah er im Brunnen ein geliebtes Bildniß
Aus naher Tiefe ſchimmern dunkel hell,
Sah er ein blaſſes Angeſicht in Zähren,
Es ſchwand und blickte wiederum empor,
Von Sehnen und Erfüllen und Gewähren
Rauſcht's um den Born in Schilf und Rohr.
„Maria!“ ſo beginnt in ihrer Kammer
Am Lager knieend ſie das Nachtgebet,
„Maria!“ wiederholt voll Glut und Jammer
Ein Mund, der neben ihr im Dunkel fleht.
Sie ſchreit. Man kommt. Von Fackelglut umlodert
Bebt ſie vor Zorn: „Ein Mörder! feſſelt ihn!“
Er lächelt: „Biſt du ſchön!“ Unaufgefordert
Giebt er den Schergen ſich dahin.
Er ſchreitet ſeinem Blutgerüſt entgegen
In einem klaren kühlen Morgenrot,
Ins Ohr des Sünders flüſtert angelegen
Ein Capuziner, der vermummte Tod:
„Freund, du bekommſt es gut! Du wirſt entlaſtet!
Ich abſolvire dich von Luſt und Pein!
Von keiner weichen weißen Hand betaſtet,
Wirſt du die ſtumme Laute ſein!“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0331" n="317"/>
            <lg n="4">
              <l>Er floh davon hinaus in Wald und Wildniß,</l><lb/>
              <l>Doch wo er lechzend &#x017F;chlürft' aus einem Quell,</l><lb/>
              <l>Sah er im Brunnen ein geliebtes Bildniß</l><lb/>
              <l>Aus naher Tiefe &#x017F;chimmern dunkel hell,</l><lb/>
              <l>Sah er ein bla&#x017F;&#x017F;es Ange&#x017F;icht in Zähren,</l><lb/>
              <l>Es &#x017F;chwand und blickte wiederum empor,</l><lb/>
              <l>Von Sehnen und Erfüllen und Gewähren</l><lb/>
              <l>Rau&#x017F;cht's um den Born in Schilf und Rohr.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="5">
              <l>&#x201E;Maria!&#x201C; &#x017F;o beginnt in ihrer Kammer</l><lb/>
              <l>Am Lager knieend &#x017F;ie das Nachtgebet,</l><lb/>
              <l>&#x201E;Maria!&#x201C; wiederholt voll Glut und Jammer</l><lb/>
              <l>Ein Mund, der neben ihr im Dunkel fleht.</l><lb/>
              <l>Sie &#x017F;chreit. Man kommt. Von Fackelglut umlodert</l><lb/>
              <l>Bebt &#x017F;ie vor Zorn: &#x201E;Ein Mörder! fe&#x017F;&#x017F;elt ihn!&#x201C;</l><lb/>
              <l>Er lächelt: &#x201E;Bi&#x017F;t du &#x017F;chön!&#x201C; Unaufgefordert</l><lb/>
              <l>Giebt er den Schergen &#x017F;ich dahin.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="6">
              <l>Er &#x017F;chreitet &#x017F;einem Blutgerü&#x017F;t entgegen</l><lb/>
              <l>In einem klaren kühlen Morgenrot,</l><lb/>
              <l>Ins Ohr des Sünders flü&#x017F;tert angelegen</l><lb/>
              <l>Ein Capuziner, der vermummte Tod:</l><lb/>
              <l>&#x201E;Freund, du bekomm&#x017F;t es gut! Du wir&#x017F;t entla&#x017F;tet!</l><lb/>
              <l>Ich ab&#x017F;olvire dich von Lu&#x017F;t und Pein!</l><lb/>
              <l>Von keiner weichen weißen Hand beta&#x017F;tet,</l><lb/>
              <l>Wir&#x017F;t du die &#x017F;tumme Laute &#x017F;ein!&#x201C;</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[317/0331] Er floh davon hinaus in Wald und Wildniß, Doch wo er lechzend ſchlürft' aus einem Quell, Sah er im Brunnen ein geliebtes Bildniß Aus naher Tiefe ſchimmern dunkel hell, Sah er ein blaſſes Angeſicht in Zähren, Es ſchwand und blickte wiederum empor, Von Sehnen und Erfüllen und Gewähren Rauſcht's um den Born in Schilf und Rohr. „Maria!“ ſo beginnt in ihrer Kammer Am Lager knieend ſie das Nachtgebet, „Maria!“ wiederholt voll Glut und Jammer Ein Mund, der neben ihr im Dunkel fleht. Sie ſchreit. Man kommt. Von Fackelglut umlodert Bebt ſie vor Zorn: „Ein Mörder! feſſelt ihn!“ Er lächelt: „Biſt du ſchön!“ Unaufgefordert Giebt er den Schergen ſich dahin. Er ſchreitet ſeinem Blutgerüſt entgegen In einem klaren kühlen Morgenrot, Ins Ohr des Sünders flüſtert angelegen Ein Capuziner, der vermummte Tod: „Freund, du bekommſt es gut! Du wirſt entlaſtet! Ich abſolvire dich von Luſt und Pein! Von keiner weichen weißen Hand betaſtet, Wirſt du die ſtumme Laute ſein!“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/331
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/331>, abgerufen am 23.11.2024.