Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Dryas.
O Liebe, wie schnell verrinnest du,
Du flüchtige, schöne Stunde,
Mit einer Wunde beginnest du
Und endest mit einer Wunde.
Ein Jüngling irrt in Waldesraum,
Umspielt von goldnen Schimmern,
Und späht nach einem schönen Baum,
Sich draus ein Boot zu zimmern.
Jungeiche mit dem stolzen Wuchs,
Du bist mir gleich die rechte,
Dich zeichn' ich mit dem Beile flugs,
Dann ruf ich meine Knechte.
Er führt den Streich. Ein schmerzlich Ach
Macht jählings ihn erbleichen.
"Ich sterbe!" stöhnt's im Stamme schwach,
"Die jüngste dieser Eichen!"
Ein Tröpfchen Blutes oder zwei
Sieht er am Beile hangen
Und schleudert's weg mit einem Schrei,
Als hätt' er Mord begangen.
2*
Die Dryas.
O Liebe, wie ſchnell verrinneſt du,
Du flüchtige, ſchöne Stunde,
Mit einer Wunde beginneſt du
Und endeſt mit einer Wunde.
Ein Jüngling irrt in Waldesraum,
Umſpielt von goldnen Schimmern,
Und ſpäht nach einem ſchönen Baum,
Sich draus ein Boot zu zimmern.
Jungeiche mit dem ſtolzen Wuchs,
Du biſt mir gleich die rechte,
Dich zeichn' ich mit dem Beile flugs,
Dann ruf ich meine Knechte.
Er führt den Streich. Ein ſchmerzlich Ach
Macht jählings ihn erbleichen.
„Ich ſterbe!“ ſtöhnt's im Stamme ſchwach,
„Die jüngſte dieſer Eichen!“
Ein Tröpfchen Blutes oder zwei
Sieht er am Beile hangen
Und ſchleudert's weg mit einem Schrei,
Als hätt' er Mord begangen.
2*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0033" n="19"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>Die Dryas.<lb/></head>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l rendition="#et">O Liebe, wie &#x017F;chnell verrinne&#x017F;t du,</l><lb/>
              <l rendition="#et">Du flüchtige, &#x017F;chöne Stunde,</l><lb/>
              <l rendition="#et">Mit einer Wunde beginne&#x017F;t du</l><lb/>
              <l rendition="#et">Und ende&#x017F;t mit einer Wunde.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="2">
              <l>Ein Jüngling irrt in Waldesraum,</l><lb/>
              <l>Um&#x017F;pielt von goldnen Schimmern,</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;päht nach einem &#x017F;chönen Baum,</l><lb/>
              <l>Sich draus ein Boot zu zimmern.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="3">
              <l>Jungeiche mit dem &#x017F;tolzen Wuchs,</l><lb/>
              <l>Du bi&#x017F;t mir gleich die rechte,</l><lb/>
              <l>Dich zeichn' ich mit dem Beile flugs,</l><lb/>
              <l>Dann ruf ich meine Knechte.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="4">
              <l>Er führt den Streich. Ein &#x017F;chmerzlich Ach</l><lb/>
              <l>Macht jählings ihn erbleichen.</l><lb/>
              <l>&#x201E;Ich &#x017F;terbe!&#x201C; &#x017F;töhnt's im Stamme &#x017F;chwach,</l><lb/>
              <l>&#x201E;Die jüng&#x017F;te die&#x017F;er Eichen!&#x201C;</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="5">
              <l>Ein Tröpfchen Blutes oder zwei</l><lb/>
              <l>Sieht er am Beile hangen</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;chleudert's weg mit einem Schrei,</l><lb/>
              <l>Als hätt' er Mord begangen.</l><lb/>
            </lg>
            <fw place="bottom" type="sig">2*<lb/></fw>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0033] Die Dryas. O Liebe, wie ſchnell verrinneſt du, Du flüchtige, ſchöne Stunde, Mit einer Wunde beginneſt du Und endeſt mit einer Wunde. Ein Jüngling irrt in Waldesraum, Umſpielt von goldnen Schimmern, Und ſpäht nach einem ſchönen Baum, Sich draus ein Boot zu zimmern. Jungeiche mit dem ſtolzen Wuchs, Du biſt mir gleich die rechte, Dich zeichn' ich mit dem Beile flugs, Dann ruf ich meine Knechte. Er führt den Streich. Ein ſchmerzlich Ach Macht jählings ihn erbleichen. „Ich ſterbe!“ ſtöhnt's im Stamme ſchwach, „Die jüngſte dieſer Eichen!“ Ein Tröpfchen Blutes oder zwei Sieht er am Beile hangen Und ſchleudert's weg mit einem Schrei, Als hätt' er Mord begangen. 2*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/33
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/33>, abgerufen am 24.11.2024.