noch durchgängig. Nach ihm mußte man sich schon bestreben, sich kürzer, deutlicher und geistreicher aus¬ zudrücken. Besonders über die spätern Dichtungen verbreitete sich eine größre Helle. Die Umständlich¬ keit wurde lästig und lächerlich. Lessing räumte scharf, keck und ein wenig grausam in der Literatur auf, wie Napoleon in der Politik. Dem schnellkräftigsten Verstande folgte der Sieg. Nach Lessing wurde die ganze deutsche Schriftstellerwelt klüger, besonnener; sie mußte sich mehr anstrengen, und gewann dadurch auch mehr Kraft und Sicherheit. Man durfte nicht mehr in gutmüthiger Dummdreistigkeit in den Tag hineinschreiben, man mußte denken, wählen, feilen. Erhielt der Verstand Anfangs vielleicht ein zu großes Übergewicht, so war dies wohl natürlich, da ein Extrem immer das andre weckt. Im Gegensatz gegen den frühern Aberwitz konnte sich wohl der Verstand auf Kosten des Gemüths ein wenig überschätzen. Les¬ sing's Schriften selbst wehen uns statt mit poetischer Wärme sehr oft nur wie ein kalter schneidender Nord¬ ost an, seine Sophistik erstickt zuweilen das Gefühl, und weckt Gedanken in uns, statt Empfindungen, und seine glänzenden Sentenzen und Antithesen stören die poetische Illusion. Auch eine Menge norddeutscher Dichter nach ihm haben zu sehr dem Verstande ge¬ huldigt und das Gemüth darüber vernachlässigt. Ab¬ gesehn von diesen Übertreibungen aber war Lessing's Wirken höchst segensvoll. Dem Verstande gebührt sein Recht auch in der Poesie und er allein kann vor
noch durchgaͤngig. Nach ihm mußte man ſich ſchon beſtreben, ſich kuͤrzer, deutlicher und geiſtreicher aus¬ zudruͤcken. Beſonders uͤber die ſpaͤtern Dichtungen verbreitete ſich eine groͤßre Helle. Die Umſtaͤndlich¬ keit wurde laͤſtig und laͤcherlich. Leſſing raͤumte ſcharf, keck und ein wenig grauſam in der Literatur auf, wie Napoleon in der Politik. Dem ſchnellkraͤftigſten Verſtande folgte der Sieg. Nach Leſſing wurde die ganze deutſche Schriftſtellerwelt kluͤger, beſonnener; ſie mußte ſich mehr anſtrengen, und gewann dadurch auch mehr Kraft und Sicherheit. Man durfte nicht mehr in gutmuͤthiger Dummdreiſtigkeit in den Tag hineinſchreiben, man mußte denken, waͤhlen, feilen. Erhielt der Verſtand Anfangs vielleicht ein zu großes Übergewicht, ſo war dies wohl natuͤrlich, da ein Extrem immer das andre weckt. Im Gegenſatz gegen den fruͤhern Aberwitz konnte ſich wohl der Verſtand auf Koſten des Gemuͤths ein wenig uͤberſchaͤtzen. Leſ¬ ſing's Schriften ſelbſt wehen uns ſtatt mit poetiſcher Waͤrme ſehr oft nur wie ein kalter ſchneidender Nord¬ oſt an, ſeine Sophiſtik erſtickt zuweilen das Gefuͤhl, und weckt Gedanken in uns, ſtatt Empfindungen, und ſeine glaͤnzenden Sentenzen und Antitheſen ſtoͤren die poetiſche Illuſion. Auch eine Menge norddeutſcher Dichter nach ihm haben zu ſehr dem Verſtande ge¬ huldigt und das Gemuͤth daruͤber vernachlaͤſſigt. Ab¬ geſehn von dieſen Übertreibungen aber war Leſſing's Wirken hoͤchſt ſegensvoll. Dem Verſtande gebuͤhrt ſein Recht auch in der Poeſie und er allein kann vor
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0096"n="86"/>
noch durchgaͤngig. Nach ihm mußte man ſich ſchon<lb/>
beſtreben, ſich kuͤrzer, deutlicher und geiſtreicher aus¬<lb/>
zudruͤcken. Beſonders uͤber die ſpaͤtern Dichtungen<lb/>
verbreitete ſich eine groͤßre Helle. Die Umſtaͤndlich¬<lb/>
keit wurde laͤſtig und laͤcherlich. Leſſing raͤumte ſcharf,<lb/>
keck und ein wenig grauſam in der Literatur auf,<lb/>
wie Napoleon in der Politik. Dem ſchnellkraͤftigſten<lb/>
Verſtande folgte der Sieg. Nach Leſſing wurde die<lb/>
ganze deutſche Schriftſtellerwelt kluͤger, beſonnener;<lb/>ſie mußte ſich mehr anſtrengen, und gewann dadurch<lb/>
auch mehr Kraft und Sicherheit. Man durfte nicht<lb/>
mehr in gutmuͤthiger Dummdreiſtigkeit in den Tag<lb/>
hineinſchreiben, man mußte denken, waͤhlen, feilen.<lb/>
Erhielt der Verſtand Anfangs vielleicht ein zu großes<lb/>
Übergewicht, ſo war dies wohl natuͤrlich, da ein<lb/>
Extrem immer das andre weckt. Im Gegenſatz gegen<lb/>
den fruͤhern Aberwitz konnte ſich wohl der Verſtand<lb/>
auf Koſten des Gemuͤths ein wenig uͤberſchaͤtzen. Leſ¬<lb/>ſing's Schriften ſelbſt wehen uns ſtatt mit poetiſcher<lb/>
Waͤrme ſehr oft nur wie ein kalter ſchneidender Nord¬<lb/>
oſt an, ſeine Sophiſtik erſtickt zuweilen das Gefuͤhl,<lb/>
und weckt Gedanken in uns, ſtatt Empfindungen, und<lb/>ſeine glaͤnzenden Sentenzen und Antitheſen ſtoͤren die<lb/>
poetiſche Illuſion. Auch eine Menge norddeutſcher<lb/>
Dichter nach ihm haben zu ſehr dem Verſtande ge¬<lb/>
huldigt und das Gemuͤth daruͤber vernachlaͤſſigt. Ab¬<lb/>
geſehn von dieſen Übertreibungen aber war Leſſing's<lb/>
Wirken hoͤchſt ſegensvoll. Dem Verſtande gebuͤhrt<lb/>ſein Recht auch in der Poeſie und er allein kann vor<lb/></p></div></body></text></TEI>
[86/0096]
noch durchgaͤngig. Nach ihm mußte man ſich ſchon
beſtreben, ſich kuͤrzer, deutlicher und geiſtreicher aus¬
zudruͤcken. Beſonders uͤber die ſpaͤtern Dichtungen
verbreitete ſich eine groͤßre Helle. Die Umſtaͤndlich¬
keit wurde laͤſtig und laͤcherlich. Leſſing raͤumte ſcharf,
keck und ein wenig grauſam in der Literatur auf,
wie Napoleon in der Politik. Dem ſchnellkraͤftigſten
Verſtande folgte der Sieg. Nach Leſſing wurde die
ganze deutſche Schriftſtellerwelt kluͤger, beſonnener;
ſie mußte ſich mehr anſtrengen, und gewann dadurch
auch mehr Kraft und Sicherheit. Man durfte nicht
mehr in gutmuͤthiger Dummdreiſtigkeit in den Tag
hineinſchreiben, man mußte denken, waͤhlen, feilen.
Erhielt der Verſtand Anfangs vielleicht ein zu großes
Übergewicht, ſo war dies wohl natuͤrlich, da ein
Extrem immer das andre weckt. Im Gegenſatz gegen
den fruͤhern Aberwitz konnte ſich wohl der Verſtand
auf Koſten des Gemuͤths ein wenig uͤberſchaͤtzen. Leſ¬
ſing's Schriften ſelbſt wehen uns ſtatt mit poetiſcher
Waͤrme ſehr oft nur wie ein kalter ſchneidender Nord¬
oſt an, ſeine Sophiſtik erſtickt zuweilen das Gefuͤhl,
und weckt Gedanken in uns, ſtatt Empfindungen, und
ſeine glaͤnzenden Sentenzen und Antitheſen ſtoͤren die
poetiſche Illuſion. Auch eine Menge norddeutſcher
Dichter nach ihm haben zu ſehr dem Verſtande ge¬
huldigt und das Gemuͤth daruͤber vernachlaͤſſigt. Ab¬
geſehn von dieſen Übertreibungen aber war Leſſing's
Wirken hoͤchſt ſegensvoll. Dem Verſtande gebuͤhrt
ſein Recht auch in der Poeſie und er allein kann vor
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/96>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.