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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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Mag man den Mangel einer nationellen Poesie be¬
klagen, die Bekanntschaft mit den griechischen Dich¬
tern war doch ein Balsam, fast der einzige für die
vielen Wunden, an denen Deutschland in jener Zeit
verblutete. Erst aus der Belebung des antiken Ge¬
schmacks ging die freiere Bildung hervor, durch wel¬
che sich auch die deutsche Poesie wieder verjüngen
konnte. Die bloße blinde Vorliebe für die Alten, die
geschmacklosen Nachahmungsversuche blieben freilich
lange Zeit die einzige Entschädigung für die beßre
noch schlummernde Poesie. Auf den steifen Meister¬
gesang, den das Mittelalter beschloß und schon die
römische und griechische Terminologie aufgenommen,
folgte die schlesische Schule, die gleich der da¬
maligen französischen und holländischen, von wo Opitz
sie entlehnt, jenen seltsamen Parnaß erschuf, da
Apollo in der Perücke mit der Geige das Concert
der hochfrisirten Musen dirigirte. Diese Gattung von
Poesie lebte vorzüglich an den Höfen und huldigte
den galanten Festivitäten. Ins Volk konnte sie nicht
lebendig dringen, und die Gelehrten konnten nicht
damit zufrieden seyn, weil die griechische Muse in
jenen Nachahmungen nicht herrschte, sondern fremden
Zwecken und der Mode dienstbar war. Darum ver¬
suchte Klopstock, indem er der französisch-schlesi¬
schen Schule und der Hofpoesie entgegentrat, die
griechische Form in völliger Reinheit und als Muster
aufzustellen und die deutsche Sprache derselben skla¬
visch zu unterwerfen. Es entstand die Gräcomanie,

Mag man den Mangel einer nationellen Poeſie be¬
klagen, die Bekanntſchaft mit den griechiſchen Dich¬
tern war doch ein Balſam, faſt der einzige fuͤr die
vielen Wunden, an denen Deutſchland in jener Zeit
verblutete. Erſt aus der Belebung des antiken Ge¬
ſchmacks ging die freiere Bildung hervor, durch wel¬
che ſich auch die deutſche Poeſie wieder verjuͤngen
konnte. Die bloße blinde Vorliebe fuͤr die Alten, die
geſchmackloſen Nachahmungsverſuche blieben freilich
lange Zeit die einzige Entſchaͤdigung fuͤr die beßre
noch ſchlummernde Poeſie. Auf den ſteifen Meiſter¬
geſang, den das Mittelalter beſchloß und ſchon die
roͤmiſche und griechiſche Terminologie aufgenommen,
folgte die ſchleſiſche Schule, die gleich der da¬
maligen franzoͤſiſchen und hollaͤndiſchen, von wo Opitz
ſie entlehnt, jenen ſeltſamen Parnaß erſchuf, da
Apollo in der Peruͤcke mit der Geige das Concert
der hochfriſirten Muſen dirigirte. Dieſe Gattung von
Poeſie lebte vorzuͤglich an den Hoͤfen und huldigte
den galanten Feſtivitaͤten. Ins Volk konnte ſie nicht
lebendig dringen, und die Gelehrten konnten nicht
damit zufrieden ſeyn, weil die griechiſche Muſe in
jenen Nachahmungen nicht herrſchte, ſondern fremden
Zwecken und der Mode dienſtbar war. Darum ver¬
ſuchte Klopſtock, indem er der franzoͤſiſch-ſchleſi¬
ſchen Schule und der Hofpoeſie entgegentrat, die
griechiſche Form in voͤlliger Reinheit und als Muſter
aufzuſtellen und die deutſche Sprache derſelben ſkla¬
viſch zu unterwerfen. Es entſtand die Graͤcomanie,

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[72/0082] Mag man den Mangel einer nationellen Poeſie be¬ klagen, die Bekanntſchaft mit den griechiſchen Dich¬ tern war doch ein Balſam, faſt der einzige fuͤr die vielen Wunden, an denen Deutſchland in jener Zeit verblutete. Erſt aus der Belebung des antiken Ge¬ ſchmacks ging die freiere Bildung hervor, durch wel¬ che ſich auch die deutſche Poeſie wieder verjuͤngen konnte. Die bloße blinde Vorliebe fuͤr die Alten, die geſchmackloſen Nachahmungsverſuche blieben freilich lange Zeit die einzige Entſchaͤdigung fuͤr die beßre noch ſchlummernde Poeſie. Auf den ſteifen Meiſter¬ geſang, den das Mittelalter beſchloß und ſchon die roͤmiſche und griechiſche Terminologie aufgenommen, folgte die ſchleſiſche Schule, die gleich der da¬ maligen franzoͤſiſchen und hollaͤndiſchen, von wo Opitz ſie entlehnt, jenen ſeltſamen Parnaß erſchuf, da Apollo in der Peruͤcke mit der Geige das Concert der hochfriſirten Muſen dirigirte. Dieſe Gattung von Poeſie lebte vorzuͤglich an den Hoͤfen und huldigte den galanten Feſtivitaͤten. Ins Volk konnte ſie nicht lebendig dringen, und die Gelehrten konnten nicht damit zufrieden ſeyn, weil die griechiſche Muſe in jenen Nachahmungen nicht herrſchte, ſondern fremden Zwecken und der Mode dienſtbar war. Darum ver¬ ſuchte Klopſtock, indem er der franzoͤſiſch-ſchleſi¬ ſchen Schule und der Hofpoeſie entgegentrat, die griechiſche Form in voͤlliger Reinheit und als Muſter aufzuſtellen und die deutſche Sprache derſelben ſkla¬ viſch zu unterwerfen. Es entſtand die Graͤcomanie,

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/82>, abgerufen am 29.11.2024.