Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

gengesetzten verdächtig. Dies täuscht häufig über den
Werth der ausgezeichnetsten Dichter, und verküm¬
mert den Genuß derselben. Wir dürfen nur an Lud¬
wig Tieck denken, dessen beste Dichtungen bis auf den
heutigen Tag von einer Menge Leuten geschmäht wer¬
den, weil ein gewisser katholischer Geruch darin ist.

Unter so vielen Modificationen haben sich im
Wesentlichen drei Hauptschulen der deutschen Poesie
in charakteristischer Eigenthümlichkeit herausgebildet,
die antike, romantische und moderne. Stellen wir
sie unter jene Grundbedingungen, so zeigt sich zuerst
der Einfluß der Gelehrsamkeit auf die antike und
romantische Schule. Im ganzen Bereich der Vergan¬
genheit, deren Erinnerung uns die Gelehrsamkeit be¬
wahrt, sind das griechische und römische Alterthum,
und das romantische Mittelalter die Hauptepochen.
Die antike Welt ist der Gegenwart am meisten ent¬
rückt und hat durchaus nur noch eine gelehrte Existenz.
Das Mittelalter steht uns näher und sein Geist hat
sich nicht nur in Büchern, auch noch im Leben selber
fortgepflanzt. Unter den fremden Nationen, denen
wir nachgeahmt, erscheinen die Franzosen dem anti¬
ken Geschmack, die Italiäner und Spanier dem ro¬
mantischen, die Engländer dem modernen am meisten
verwandt. Was endlich den Einfluß der Glaubens-
und Denkweise betrifft, so hat die antike und moderne
Schule auf gleiche Weise vorzüglich bei den Prote¬
stanten Anhang gefunden, die romantische aber bei
den Katholiken.

gengeſetzten verdaͤchtig. Dies taͤuſcht haͤufig uͤber den
Werth der ausgezeichnetſten Dichter, und verkuͤm¬
mert den Genuß derſelben. Wir duͤrfen nur an Lud¬
wig Tieck denken, deſſen beſte Dichtungen bis auf den
heutigen Tag von einer Menge Leuten geſchmaͤht wer¬
den, weil ein gewiſſer katholiſcher Geruch darin iſt.

Unter ſo vielen Modificationen haben ſich im
Weſentlichen drei Hauptſchulen der deutſchen Poeſie
in charakteriſtiſcher Eigenthuͤmlichkeit herausgebildet,
die antike, romantiſche und moderne. Stellen wir
ſie unter jene Grundbedingungen, ſo zeigt ſich zuerſt
der Einfluß der Gelehrſamkeit auf die antike und
romantiſche Schule. Im ganzen Bereich der Vergan¬
genheit, deren Erinnerung uns die Gelehrſamkeit be¬
wahrt, ſind das griechiſche und roͤmiſche Alterthum,
und das romantiſche Mittelalter die Hauptepochen.
Die antike Welt iſt der Gegenwart am meiſten ent¬
ruͤckt und hat durchaus nur noch eine gelehrte Exiſtenz.
Das Mittelalter ſteht uns naͤher und ſein Geiſt hat
ſich nicht nur in Buͤchern, auch noch im Leben ſelber
fortgepflanzt. Unter den fremden Nationen, denen
wir nachgeahmt, erſcheinen die Franzoſen dem anti¬
ken Geſchmack, die Italiaͤner und Spanier dem ro¬
mantiſchen, die Englaͤnder dem modernen am meiſten
verwandt. Was endlich den Einfluß der Glaubens-
und Denkweiſe betrifft, ſo hat die antike und moderne
Schule auf gleiche Weiſe vorzuͤglich bei den Prote¬
ſtanten Anhang gefunden, die romantiſche aber bei
den Katholiken.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0080" n="70"/>
genge&#x017F;etzten verda&#x0364;chtig. Dies ta&#x0364;u&#x017F;cht ha&#x0364;ufig u&#x0364;ber den<lb/>
Werth der ausgezeichnet&#x017F;ten Dichter, und verku&#x0364;<lb/>
mert den Genuß der&#x017F;elben. Wir du&#x0364;rfen nur an Lud¬<lb/>
wig Tieck denken, de&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;te Dichtungen bis auf den<lb/>
heutigen Tag von einer Menge Leuten ge&#x017F;chma&#x0364;ht wer¬<lb/>
den, weil ein gewi&#x017F;&#x017F;er katholi&#x017F;cher Geruch darin i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Unter &#x017F;o vielen Modificationen haben &#x017F;ich im<lb/>
We&#x017F;entlichen drei Haupt&#x017F;chulen der deut&#x017F;chen Poe&#x017F;ie<lb/>
in charakteri&#x017F;ti&#x017F;cher Eigenthu&#x0364;mlichkeit herausgebildet,<lb/>
die antike, romanti&#x017F;che und moderne. Stellen wir<lb/>
&#x017F;ie unter jene Grundbedingungen, &#x017F;o zeigt &#x017F;ich zuer&#x017F;t<lb/>
der Einfluß der Gelehr&#x017F;amkeit auf die antike und<lb/>
romanti&#x017F;che Schule. Im ganzen Bereich der Vergan¬<lb/>
genheit, deren Erinnerung uns die Gelehr&#x017F;amkeit be¬<lb/>
wahrt, &#x017F;ind das griechi&#x017F;che und ro&#x0364;mi&#x017F;che Alterthum,<lb/>
und das romanti&#x017F;che Mittelalter die Hauptepochen.<lb/>
Die antike Welt i&#x017F;t der Gegenwart am mei&#x017F;ten ent¬<lb/>
ru&#x0364;ckt und hat durchaus nur noch eine gelehrte Exi&#x017F;tenz.<lb/>
Das Mittelalter &#x017F;teht uns na&#x0364;her und &#x017F;ein Gei&#x017F;t hat<lb/>
&#x017F;ich nicht nur in Bu&#x0364;chern, auch noch im Leben &#x017F;elber<lb/>
fortgepflanzt. Unter den fremden Nationen, denen<lb/>
wir nachgeahmt, er&#x017F;cheinen die Franzo&#x017F;en dem anti¬<lb/>
ken Ge&#x017F;chmack, die Italia&#x0364;ner und Spanier dem ro¬<lb/>
manti&#x017F;chen, die Engla&#x0364;nder dem modernen am mei&#x017F;ten<lb/>
verwandt. Was endlich den Einfluß der Glaubens-<lb/>
und Denkwei&#x017F;e betrifft, &#x017F;o hat die antike und moderne<lb/>
Schule auf gleiche Wei&#x017F;e vorzu&#x0364;glich bei den Prote¬<lb/>
&#x017F;tanten Anhang gefunden, die romanti&#x017F;che aber bei<lb/>
den Katholiken.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0080] gengeſetzten verdaͤchtig. Dies taͤuſcht haͤufig uͤber den Werth der ausgezeichnetſten Dichter, und verkuͤm¬ mert den Genuß derſelben. Wir duͤrfen nur an Lud¬ wig Tieck denken, deſſen beſte Dichtungen bis auf den heutigen Tag von einer Menge Leuten geſchmaͤht wer¬ den, weil ein gewiſſer katholiſcher Geruch darin iſt. Unter ſo vielen Modificationen haben ſich im Weſentlichen drei Hauptſchulen der deutſchen Poeſie in charakteriſtiſcher Eigenthuͤmlichkeit herausgebildet, die antike, romantiſche und moderne. Stellen wir ſie unter jene Grundbedingungen, ſo zeigt ſich zuerſt der Einfluß der Gelehrſamkeit auf die antike und romantiſche Schule. Im ganzen Bereich der Vergan¬ genheit, deren Erinnerung uns die Gelehrſamkeit be¬ wahrt, ſind das griechiſche und roͤmiſche Alterthum, und das romantiſche Mittelalter die Hauptepochen. Die antike Welt iſt der Gegenwart am meiſten ent¬ ruͤckt und hat durchaus nur noch eine gelehrte Exiſtenz. Das Mittelalter ſteht uns naͤher und ſein Geiſt hat ſich nicht nur in Buͤchern, auch noch im Leben ſelber fortgepflanzt. Unter den fremden Nationen, denen wir nachgeahmt, erſcheinen die Franzoſen dem anti¬ ken Geſchmack, die Italiaͤner und Spanier dem ro¬ mantiſchen, die Englaͤnder dem modernen am meiſten verwandt. Was endlich den Einfluß der Glaubens- und Denkweiſe betrifft, ſo hat die antike und moderne Schule auf gleiche Weiſe vorzuͤglich bei den Prote¬ ſtanten Anhang gefunden, die romantiſche aber bei den Katholiken.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/80
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/80>, abgerufen am 17.05.2024.