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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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die engherzigen Vorurtheile mußten am Ende dem
reinen Gefühl der echten Kunst weichen, und eine
neue Schule junger Plastiker und Maler versuchte
die alten Muster zu erreichen. So freudige Hoffnun¬
gen sie aber erregt, so ist doch alles erst im Beginn
und wie es bei jeder Restauration zu geschehen pflegt,
Widersprüche, Einseitigkeiten, Manieren und Über¬
treibungen konnten nicht fehlen. Das Antike und das
Gothische, die italienische und deutsche Schule woll¬
ten ausschließlich gelten und wieder überschätzte man
einzelne Namen und überbot sich im Manieriren. Im¬
mer mehr aber reiben die Ansichten an einander sich
ab, und ohne Zweifel werden die Künstler selbst und
neue große Werke dem Gerede ein Ende machen.

Was für die andern Künste geschehen war, ver¬
suchte zuletzt Thibaut auch für die Musik zu leisten,
und sein Werk über Reinheit der Tonkunst kündigt
uns dieselbe Revolution in der Musik an, die wir
in andern Künsten erlebt haben. Auch in der Musik
herrscht ein falscher Geschmack unnatürlicher Künste¬
lei, eine überwiegende Herrschaft der Harmonie über
die Melodie, der Instrumente über den Gesang, der
weltlichen, sinnlichen Musik über die religiöse. Thi¬
baut hätte vielleicht aber besser gethan, wenn er sein
Werk mehr theoretisch als antiquarisch gehalten hätte.
Seine Muster des alten Kirchenstyls verhalten sich
zu der neuern Opernmusik keineswegs, wie die An¬
tike zu Bernini. Man muß beide gelten lassen, dort
Palästrina, hier Mozart, dort die Andacht, hier die

die engherzigen Vorurtheile mußten am Ende dem
reinen Gefuͤhl der echten Kunſt weichen, und eine
neue Schule junger Plaſtiker und Maler verſuchte
die alten Muſter zu erreichen. So freudige Hoffnun¬
gen ſie aber erregt, ſo iſt doch alles erſt im Beginn
und wie es bei jeder Reſtauration zu geſchehen pflegt,
Widerſpruͤche, Einſeitigkeiten, Manieren und Über¬
treibungen konnten nicht fehlen. Das Antike und das
Gothiſche, die italieniſche und deutſche Schule woll¬
ten ausſchließlich gelten und wieder uͤberſchaͤtzte man
einzelne Namen und uͤberbot ſich im Manieriren. Im¬
mer mehr aber reiben die Anſichten an einander ſich
ab, und ohne Zweifel werden die Kuͤnſtler ſelbſt und
neue große Werke dem Gerede ein Ende machen.

Was fuͤr die andern Kuͤnſte geſchehen war, ver¬
ſuchte zuletzt Thibaut auch fuͤr die Muſik zu leiſten,
und ſein Werk uͤber Reinheit der Tonkunſt kuͤndigt
uns dieſelbe Revolution in der Muſik an, die wir
in andern Kuͤnſten erlebt haben. Auch in der Muſik
herrſcht ein falſcher Geſchmack unnatuͤrlicher Kuͤnſte¬
lei, eine uͤberwiegende Herrſchaft der Harmonie uͤber
die Melodie, der Inſtrumente uͤber den Geſang, der
weltlichen, ſinnlichen Muſik uͤber die religioͤſe. Thi¬
baut haͤtte vielleicht aber beſſer gethan, wenn er ſein
Werk mehr theoretiſch als antiquariſch gehalten haͤtte.
Seine Muſter des alten Kirchenſtyls verhalten ſich
zu der neuern Opernmuſik keineswegs, wie die An¬
tike zu Bernini. Man muß beide gelten laſſen, dort
Palaͤſtrina, hier Mozart, dort die Andacht, hier die

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[52/0062] die engherzigen Vorurtheile mußten am Ende dem reinen Gefuͤhl der echten Kunſt weichen, und eine neue Schule junger Plaſtiker und Maler verſuchte die alten Muſter zu erreichen. So freudige Hoffnun¬ gen ſie aber erregt, ſo iſt doch alles erſt im Beginn und wie es bei jeder Reſtauration zu geſchehen pflegt, Widerſpruͤche, Einſeitigkeiten, Manieren und Über¬ treibungen konnten nicht fehlen. Das Antike und das Gothiſche, die italieniſche und deutſche Schule woll¬ ten ausſchließlich gelten und wieder uͤberſchaͤtzte man einzelne Namen und uͤberbot ſich im Manieriren. Im¬ mer mehr aber reiben die Anſichten an einander ſich ab, und ohne Zweifel werden die Kuͤnſtler ſelbſt und neue große Werke dem Gerede ein Ende machen. Was fuͤr die andern Kuͤnſte geſchehen war, ver¬ ſuchte zuletzt Thibaut auch fuͤr die Muſik zu leiſten, und ſein Werk uͤber Reinheit der Tonkunſt kuͤndigt uns dieſelbe Revolution in der Muſik an, die wir in andern Kuͤnſten erlebt haben. Auch in der Muſik herrſcht ein falſcher Geſchmack unnatuͤrlicher Kuͤnſte¬ lei, eine uͤberwiegende Herrſchaft der Harmonie uͤber die Melodie, der Inſtrumente uͤber den Geſang, der weltlichen, ſinnlichen Muſik uͤber die religioͤſe. Thi¬ baut haͤtte vielleicht aber beſſer gethan, wenn er ſein Werk mehr theoretiſch als antiquariſch gehalten haͤtte. Seine Muſter des alten Kirchenſtyls verhalten ſich zu der neuern Opernmuſik keineswegs, wie die An¬ tike zu Bernini. Man muß beide gelten laſſen, dort Palaͤſtrina, hier Mozart, dort die Andacht, hier die

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/62>, abgerufen am 18.05.2024.