Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Empiriker und Philosophen haben sich wech¬
selseitig und sehr zur Unehre der Wissenschaft aufs
Bitterste angefeindet. Beide haben einander die gröb¬
sten Irrthümer vorgeworfen, und nicht mit Unrecht.
Blind heißt der Empiriker, ein Visionair der Philo¬
soph. Jener sieht nichts, was er nicht mit Händen
greifen kann, dieser glaubt zu greifen, was er nicht
einmal sehen kann.

Der Empiriker begeht auf einem scheinbar sehr
sichern Boden doch so grobe Fehler, als immer der Phi¬
losoph. Auch er muß oft erklären, was sich nicht ge¬
rade von selbst versteht, und für bekannte Erschei¬
nungen die unbekannten Ursachen suchen. Dann steht
er aber gewöhnlich hinter dem Philosophen weit zu¬
rück, weil es ihm gar nicht darauf ankommt, die
eine Erscheinung im Zusammenhang mit allen andern
zu begreifen, sondern weil er nur für den einen Fall
nach der ersten besten Wahrscheinlichkeit greift. Man
könnte ein ganzes Buch voll der albernsten Erklärun¬
gen solcher Empiriker sammeln, und es den Eulen¬
spiegel der Naturforscher tituliren. Statt hunderten
möge hier nur eine stehn, die aber sehr geeignet ist,
das ganze Verfahren zu charakterisiren. Viele, fast
alle und selbst sehr berühmte Empiriker erklären das
Entstehn der Vegetation auf eben erst über das Meer
erhobenen Coralleninseln oder überhaupt an Orten,
wo sich kein Same dazu vorfindet, beständig dadurch,
daß Winde oder Vögel, viele hundert Meilen weit
den Samen dazu herbeigetragen hätten, und dies

Die Empiriker und Philoſophen haben ſich wech¬
ſelſeitig und ſehr zur Unehre der Wiſſenſchaft aufs
Bitterſte angefeindet. Beide haben einander die groͤb¬
ſten Irrthuͤmer vorgeworfen, und nicht mit Unrecht.
Blind heißt der Empiriker, ein Viſionair der Philo¬
ſoph. Jener ſieht nichts, was er nicht mit Haͤnden
greifen kann, dieſer glaubt zu greifen, was er nicht
einmal ſehen kann.

Der Empiriker begeht auf einem ſcheinbar ſehr
ſichern Boden doch ſo grobe Fehler, als immer der Phi¬
loſoph. Auch er muß oft erklaͤren, was ſich nicht ge¬
rade von ſelbſt verſteht, und fuͤr bekannte Erſchei¬
nungen die unbekannten Urſachen ſuchen. Dann ſteht
er aber gewoͤhnlich hinter dem Philoſophen weit zu¬
ruͤck, weil es ihm gar nicht darauf ankommt, die
eine Erſcheinung im Zuſammenhang mit allen andern
zu begreifen, ſondern weil er nur fuͤr den einen Fall
nach der erſten beſten Wahrſcheinlichkeit greift. Man
koͤnnte ein ganzes Buch voll der albernſten Erklaͤrun¬
gen ſolcher Empiriker ſammeln, und es den Eulen¬
ſpiegel der Naturforſcher tituliren. Statt hunderten
moͤge hier nur eine ſtehn, die aber ſehr geeignet iſt,
das ganze Verfahren zu charakteriſiren. Viele, faſt
alle und ſelbſt ſehr beruͤhmte Empiriker erklaͤren das
Entſtehn der Vegetation auf eben erſt uͤber das Meer
erhobenen Coralleninſeln oder uͤberhaupt an Orten,
wo ſich kein Same dazu vorfindet, beſtaͤndig dadurch,
daß Winde oder Voͤgel, viele hundert Meilen weit
den Samen dazu herbeigetragen haͤtten, und dies

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0030" n="20"/>
        <p>Die Empiriker und Philo&#x017F;ophen haben &#x017F;ich wech¬<lb/>
&#x017F;el&#x017F;eitig und &#x017F;ehr zur Unehre der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft aufs<lb/>
Bitter&#x017F;te angefeindet. Beide haben einander die gro&#x0364;<lb/>
&#x017F;ten Irrthu&#x0364;mer vorgeworfen, und nicht mit Unrecht.<lb/>
Blind heißt der Empiriker, ein Vi&#x017F;ionair der Philo¬<lb/>
&#x017F;oph. Jener &#x017F;ieht nichts, was er nicht mit Ha&#x0364;nden<lb/>
greifen kann, die&#x017F;er glaubt zu greifen, was er nicht<lb/>
einmal &#x017F;ehen kann.</p><lb/>
        <p>Der Empiriker begeht auf einem &#x017F;cheinbar &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;ichern Boden doch &#x017F;o grobe Fehler, als immer der Phi¬<lb/>
lo&#x017F;oph. Auch er <hi rendition="#g">muß</hi> oft erkla&#x0364;ren, was &#x017F;ich nicht ge¬<lb/>
rade von &#x017F;elb&#x017F;t ver&#x017F;teht, und fu&#x0364;r bekannte Er&#x017F;chei¬<lb/>
nungen die unbekannten Ur&#x017F;achen &#x017F;uchen. Dann &#x017F;teht<lb/>
er aber gewo&#x0364;hnlich hinter dem Philo&#x017F;ophen weit zu¬<lb/>
ru&#x0364;ck, weil es ihm gar nicht darauf ankommt, die<lb/>
eine Er&#x017F;cheinung im Zu&#x017F;ammenhang mit allen andern<lb/>
zu begreifen, &#x017F;ondern weil er nur fu&#x0364;r den einen Fall<lb/>
nach der er&#x017F;ten be&#x017F;ten Wahr&#x017F;cheinlichkeit greift. Man<lb/>
ko&#x0364;nnte ein ganzes Buch voll der albern&#x017F;ten Erkla&#x0364;run¬<lb/>
gen &#x017F;olcher Empiriker &#x017F;ammeln, und es den Eulen¬<lb/>
&#x017F;piegel der Naturfor&#x017F;cher tituliren. Statt hunderten<lb/>
mo&#x0364;ge hier nur eine &#x017F;tehn, die aber &#x017F;ehr geeignet i&#x017F;t,<lb/>
das ganze Verfahren zu charakteri&#x017F;iren. Viele, fa&#x017F;t<lb/>
alle und &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ehr beru&#x0364;hmte Empiriker erkla&#x0364;ren das<lb/>
Ent&#x017F;tehn der Vegetation auf eben er&#x017F;t u&#x0364;ber das Meer<lb/>
erhobenen Corallenin&#x017F;eln oder u&#x0364;berhaupt an Orten,<lb/>
wo &#x017F;ich kein Same dazu vorfindet, be&#x017F;ta&#x0364;ndig dadurch,<lb/>
daß Winde oder Vo&#x0364;gel, viele hundert Meilen weit<lb/>
den Samen dazu herbeigetragen ha&#x0364;tten, und dies<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[20/0030] Die Empiriker und Philoſophen haben ſich wech¬ ſelſeitig und ſehr zur Unehre der Wiſſenſchaft aufs Bitterſte angefeindet. Beide haben einander die groͤb¬ ſten Irrthuͤmer vorgeworfen, und nicht mit Unrecht. Blind heißt der Empiriker, ein Viſionair der Philo¬ ſoph. Jener ſieht nichts, was er nicht mit Haͤnden greifen kann, dieſer glaubt zu greifen, was er nicht einmal ſehen kann. Der Empiriker begeht auf einem ſcheinbar ſehr ſichern Boden doch ſo grobe Fehler, als immer der Phi¬ loſoph. Auch er muß oft erklaͤren, was ſich nicht ge¬ rade von ſelbſt verſteht, und fuͤr bekannte Erſchei¬ nungen die unbekannten Urſachen ſuchen. Dann ſteht er aber gewoͤhnlich hinter dem Philoſophen weit zu¬ ruͤck, weil es ihm gar nicht darauf ankommt, die eine Erſcheinung im Zuſammenhang mit allen andern zu begreifen, ſondern weil er nur fuͤr den einen Fall nach der erſten beſten Wahrſcheinlichkeit greift. Man koͤnnte ein ganzes Buch voll der albernſten Erklaͤrun¬ gen ſolcher Empiriker ſammeln, und es den Eulen¬ ſpiegel der Naturforſcher tituliren. Statt hunderten moͤge hier nur eine ſtehn, die aber ſehr geeignet iſt, das ganze Verfahren zu charakteriſiren. Viele, faſt alle und ſelbſt ſehr beruͤhmte Empiriker erklaͤren das Entſtehn der Vegetation auf eben erſt uͤber das Meer erhobenen Coralleninſeln oder uͤberhaupt an Orten, wo ſich kein Same dazu vorfindet, beſtaͤndig dadurch, daß Winde oder Voͤgel, viele hundert Meilen weit den Samen dazu herbeigetragen haͤtten, und dies

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/30
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/30>, abgerufen am 25.11.2024.