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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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bis du zeigst, daß du die Liebe der Ehre opfern kannst.
Die Ehre ist beim Manne, was die Keuschheit beim
Weibe. Beide sind die Grazie der Liebe, sie sind
noch mehr. Ohne sie ist die Liebe nicht echt und
wirklich, weil schwache Männer und unkeusche Wei¬
ber nur buhlen oder Liebe heucheln können. Der He¬
roismus der modernen Schwächlinge besteht im wei¬
bischen verächtlichen Selbstmord, wie bei Werther,
oder im kläglichen Weinen, wie bei Siegwart, oder
im conventionellen Entsagen, in der lauen Resigna¬
tion, wie bei Lafontaine. Diese Helden nennt schon
Lessing in einem Briefe an Eschenburg, wo er von
Werther's Leiden spricht, "kleingroße, verächtlichschätz¬
bare Originale." Man kann sie nicht treffender be¬
zeichnen.

Jeder Mann, dem das Herz auf dem rechten
Flecke sitzt, wird einen gewissen Eckel und eine tiefe
Verachtung nicht unterdrücken können, wenn er Lie¬
besgeschichten dieser Art aus der Hand legt. Unter
dem andern Geschlecht aber können nur unerfahrne,
krankhaft sehnsüchtige Mädchen und kokette oder em¬
pfindsam tändelnde Weiber an dergleichen Liebhabern
im Leben oder in Büchern Gefallen finden. Ich will
nicht sagen, daß die Moral sich dagegen empören
soll. Man versteht unter der Moral leider seit ge¬
raumer Zeit nur jenes Surrogat, das dieselbe kraft¬
lose Zeit an die Stelle wahrer Sittlichkeit gesetzt
hat, nur jene nergelnde Tadelsucht alter Jungfern,
nur die ehrsame Scheinheiligkeit oder die naßkalte,

bis du zeigſt, daß du die Liebe der Ehre opfern kannſt.
Die Ehre iſt beim Manne, was die Keuſchheit beim
Weibe. Beide ſind die Grazie der Liebe, ſie ſind
noch mehr. Ohne ſie iſt die Liebe nicht echt und
wirklich, weil ſchwache Maͤnner und unkeuſche Wei¬
ber nur buhlen oder Liebe heucheln koͤnnen. Der He¬
roismus der modernen Schwaͤchlinge beſteht im wei¬
biſchen veraͤchtlichen Selbſtmord, wie bei Werther,
oder im klaͤglichen Weinen, wie bei Siegwart, oder
im conventionellen Entſagen, in der lauen Reſigna¬
tion, wie bei Lafontaine. Dieſe Helden nennt ſchon
Leſſing in einem Briefe an Eſchenburg, wo er von
Werther's Leiden ſpricht, «kleingroße, veraͤchtlichſchaͤtz¬
bare Originale.» Man kann ſie nicht treffender be¬
zeichnen.

Jeder Mann, dem das Herz auf dem rechten
Flecke ſitzt, wird einen gewiſſen Eckel und eine tiefe
Verachtung nicht unterdruͤcken koͤnnen, wenn er Lie¬
besgeſchichten dieſer Art aus der Hand legt. Unter
dem andern Geſchlecht aber koͤnnen nur unerfahrne,
krankhaft ſehnſuͤchtige Maͤdchen und kokette oder em¬
pfindſam taͤndelnde Weiber an dergleichen Liebhabern
im Leben oder in Buͤchern Gefallen finden. Ich will
nicht ſagen, daß die Moral ſich dagegen empoͤren
ſoll. Man verſteht unter der Moral leider ſeit ge¬
raumer Zeit nur jenes Surrogat, das dieſelbe kraft¬
loſe Zeit an die Stelle wahrer Sittlichkeit geſetzt
hat, nur jene nergelnde Tadelſucht alter Jungfern,
nur die ehrſame Scheinheiligkeit oder die naßkalte,

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[276/0286] bis du zeigſt, daß du die Liebe der Ehre opfern kannſt. Die Ehre iſt beim Manne, was die Keuſchheit beim Weibe. Beide ſind die Grazie der Liebe, ſie ſind noch mehr. Ohne ſie iſt die Liebe nicht echt und wirklich, weil ſchwache Maͤnner und unkeuſche Wei¬ ber nur buhlen oder Liebe heucheln koͤnnen. Der He¬ roismus der modernen Schwaͤchlinge beſteht im wei¬ biſchen veraͤchtlichen Selbſtmord, wie bei Werther, oder im klaͤglichen Weinen, wie bei Siegwart, oder im conventionellen Entſagen, in der lauen Reſigna¬ tion, wie bei Lafontaine. Dieſe Helden nennt ſchon Leſſing in einem Briefe an Eſchenburg, wo er von Werther's Leiden ſpricht, «kleingroße, veraͤchtlichſchaͤtz¬ bare Originale.» Man kann ſie nicht treffender be¬ zeichnen. Jeder Mann, dem das Herz auf dem rechten Flecke ſitzt, wird einen gewiſſen Eckel und eine tiefe Verachtung nicht unterdruͤcken koͤnnen, wenn er Lie¬ besgeſchichten dieſer Art aus der Hand legt. Unter dem andern Geſchlecht aber koͤnnen nur unerfahrne, krankhaft ſehnſuͤchtige Maͤdchen und kokette oder em¬ pfindſam taͤndelnde Weiber an dergleichen Liebhabern im Leben oder in Buͤchern Gefallen finden. Ich will nicht ſagen, daß die Moral ſich dagegen empoͤren ſoll. Man verſteht unter der Moral leider ſeit ge¬ raumer Zeit nur jenes Surrogat, das dieſelbe kraft¬ loſe Zeit an die Stelle wahrer Sittlichkeit geſetzt hat, nur jene nergelnde Tadelſucht alter Jungfern, nur die ehrſame Scheinheiligkeit oder die naßkalte,

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/286>, abgerufen am 26.11.2024.